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Urteil gegen katalanischen PolitikerVaterland oder Rechtsstaat

Reiner Wandler
Kommentar von Reiner Wandler

Oriol Junqueras darf nicht ins Europaparlament. Spaniens oberstes Gericht stellt sich damit offen gegen Europa.

2. November 2017: Oriol Junqueras kommt zu einer Anhörung vor dem obersten Gerichtshof in Madrid Foto: Paul White/dpa

S paniens Justiz legt sich offen mit Europa an. Der ehemalige katalanische Vize-Regierungschef Oriol Junqueras, der seit über zwei Jahren im Gefängnis sitzt und im vergangenen Oktober zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde, darf laut einer Entscheidung des obersten spanischen Gerichts seinen Sitz im Europaparlament nicht einnehmen. Und das, obwohl der EuGH beschied, dass Junqueras im Mai, als er in Untersuchungshaft saß, rechtmäßig gewählt wurde und eigentlich seither Immunität genießt.

Spanien verspielt mit dieser Entscheidung einen weiteren Teil des Rufs, ein demokratischer Rechtsstaat zu sein. Das Urteil selbst – das gegen den immunen Junqueras eigentlich gar nicht hätte gefällt werden können – ist schon äußerst fragwürdig. Junqueras und mit ihm acht weitere Unabhängigkeitspolitiker und -aktivisten wurden wegen „Aufruhr“ verurteilt. Ihr Vergehen: Sie stellten Urnen auf, um die Katalanen darüber entscheiden zu lassen, ob sie weiterhin zu Spanien gehören oder unabhängig sein wollen. Alles verlief völlig friedlich, von den harten Polizeieinsätzen einmal abgesehen.

Dass diese Vorwürfe nicht mit europäischen Rechtsstandards kompatibel sind, zeigt die Ablehnung von mehreren Auslieferungsanträgen gegen Junqueras’ einstigen Chef in der katalanischen Regierung, Carles Puigdemont. Er und zwei weitere Minister leben im Ausland. Weder die belgische noch die schottische oder die deutsche Justiz leistete dem Auslieferungsgesuch der spanischen Richter Folge. Internationale Prozessbeobachter, unter ihnen Amnesty International, beklagten ebenfalls, dass das Verfahren, bei dem Junqueras verurteilt wurde, ein schwerer Verstoß gegen Demonstrations- und Meinungsfreiheit war.

Die obersten Richter Spaniens scheint all dies nicht zu stören. Sie machen einfach weiter. Das völlig veraltete Konzept eines einheitlichen und großen Spaniens, wie es einst in der Franco-Diktatur gepriesen wurde, scheint für sie über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stehen. Sie verspielen damit das Ansehen Spaniens, das in mehr als 40 Jahren mühsam erarbeitet worden war.

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Reiner Wandler
Auslandskorrespondent Spanien
Reiner Wandler wurde 1963 in Haueneberstein, einem Dorf, das heute zum heilen Weltstädtchen Baden-Baden gehört, geboren. Dort machte er während der Gymnasialzeit seine ersten Gehversuche im Journalismus als Redakteur einer alternativen Stadtzeitung, sowie als freier Autor verschiedener alternativen Publikationen. Nach dem Abitur zog es ihn in eine rauere aber auch ehrlichere Stadt, nach Mannheim. Hier machte er eine Lehre als Maschinenschlosser, bevor er ein Studium in Spanisch und Politikwissenschaften aufnahm. 1992 kam er mit einem Stipendium nach Madrid. Ein halbes Jahr später schickte er seinen ersten Korrespondentenbericht nach Berlin. 1996 weitete sich das Berichtsgebiet auf die Länder Nordafrikas sowie Richtung Portugal aus.
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14 Kommentare

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  • Es gibt kaum ein Volk in Europa, welches so vehement, aber dennoch auf friedlichem Weg, das Ziel eines Referendums zur Unabhängigkeit anstrebt wie Katalonien.

    Schon im Jahr 2013 gab es eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments, welches die Kompetenz zur Abhaltung einer Volksbefragung von Madrid erbat. Aber in Madrid schickten sie die Bittsteller Kataloniens nach Hause.



    Die Befürworter der Unabhängigkeit erreichten bei den letzten beiden Regionalwahlen jeweils absolute Mehrheiten der Sitze und über 47% der Stimmen. Die erklärten Gegner der Unabhängigkeit bzw. deren Parteien kamen nur auf ca. 43%, wenn wir z.B. Podemos, welche ein Referendum befürworten, außer Acht lassen.

    Rechnen Sie aus, wieviele Menschen am Referendum 2017 hätten teilnehmen und sämtlich für den Verbleib in Spanien stimmen müssen, damit der Wunsch nach Unabhängigkeit verloren hätte.

    Daran daß der spanische Staat Katalonien keine Zwischen- oder föderale Lösung anbieten will und/oder kann, aber vor allem an seiner Strategie der richterlichen Verfolgung, wird die Einheit Spaniens in den nächsten Jahren zerbrechen. Selbstverschuldet und unnötig, wenn wir die Geschichte und Politik der letzten 15 Jahren studieren.

  • In Katalonien baumeln an allen öffentlichen Einrichtungen groteske gelbe Schleifen und Spruchbänder mit Parolen wie Meinungsfreiheit, politische Gefangene befreien und Exilierte zurück nach Hause. Hat auch nie jemand was gesagt, bis ein Banner dann zu riesig wurde. Und kein einziges mit einer anderen Meinung! Gelbe Kreuze auf Stränden, wehe, du stellst die weg, weil du wenigstens am Strand mal keinen nationalistischen Pathos willst. Solidarität? Darum geht's doch gar nicht. Macht. Wohlgemerkt: Die Parlamentsmehrheit, die Regierung, bringt überall unwidersprochen ihre eigenen Symbole an. Von einer differenzierten Meinung keine Spur, und bestimmt nicht, weil es die nicht gibt. So was gibt es ansonsten eher in der Türkei oder in Russland. Die demokratische Gesinnung der katalanistischen Politiker ist recht löchrig, da sind sie alle Kinder des selben Landes, der selben Geschichte.



    Das mit den 70% stimmt nicht. Sit and talk? Haha, das hat der Jordi Sanchez geprägt, ein hervorragender Redner, gibt die Parolen vor. Am nächsten Tag haben Artadi, Torra, Torrent und allesamt das sofort brav nachgeplappert, auf der folgenden Demos gab es die entsprechenden Spruchbänder. - Wir wollen Gespräche ohne Vorbedingungen, unter der Bedingung, dass unsere Wünsche umgesetzt werden und uns das vorher schriftlich zugesagt wird. Wir sind das Volk! Die Amtsenthebung ist krass aber konsequent, demokratische Machtausübung unterscheidet sich von der totalitären dadurch, dass auch die Meinung der Minderheit (sagen wir mal 40-49% der katalanischen Bevölkerung) Raum und Respekt erfährt. Und von der sind die wenigsten Faschisten.



    Die katalanistischen Politiker wussten genau, was auf sie zukommt, wenn sie das Unabhängigkeitsreferendum ohne Abmachungen durchziehen. Der Vize und Zuständige für Wirtschaft (u.a. Finanzierung der Parallelstrukturen, wie katalanisches Finanzamt), sitzt, der Präsi ist geflohen. Tolle Truppe, super Politiker! Ja, die EU könnte sich erbarmen und einen Mediator schicken.

    • @dieser Mensch:

      In allen Umfragen der letzten Jahre lag der Wunsch nach einem verbindlichen, ausgehandelten Referendum als beste Lösung des politischen Souveränitätskonflikts zwischen Spanien und Katalonien deutlich über 70%.

      Das heißt nich, daß solch eine überwältigende Mehrheit auch die Eigenstaatlichkeit bevorzugt.



      Der spanische Staat hat versucht, das politische Problem mit dem Knüppel und mit Repression au lösen, aber wie Sie gestehen werden, war dies sowohl taktisch als auch menschlich ein Holzweg.

      Das Vertrauen der katalanischen Bevölkerung in die spanischen Institutionen (Regierung, Justiz, Monarchie) als auch die spanische Presse ist auf einem Nullpunkt angelangt. Ob die aktuelle, spanische Minderheitsregierung in der Lage ist, die Mehrheit der Bevölkerung Kataloniens für ein gemeinsames Projekt innerhalb Spaniens zu begeistern, wage ich zu bezweifeln. Mit Aktivisten und Politikern im Gefängnis werden sich nur wenige Menschen davon überzeugen lassen.

      Die richterliche Repression ist aufgrund der Verletzung von Grundrechten und politischen Rechten jetzt ein Thema für die EU, den EGMR und den EuGH.

      Die katalanischen Politiker im Exil sitzen heute im EU-Parlament. Diejenigen, welche aus persönlichen Gründen oder aus politischer Überzeugung zu Hause blieben, sitzen jetzt trotz vom EuGH anerkannter (vom spanischen, Obersten Gericht ignorierten!) Immunität in Haft.



      Die niedrigere Instanz verweigert also die Umsetzung des Urteils der höheren Instanz. Dieser Machtkampf der spanischen mit der europäischen Justiz kann für Spanien nur in die Hose gehen. Wenn Richter Machtpolitik machen wollen, sollten sie in die Politik gehen,

  • "Das völlig veraltete Konzept eines einheitlichen und großen Spaniens, wie es einst in der Franco-Diktatur gepriesen wurde, scheint für sie über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stehen." Merkwürdige Meinung, sehr merkwürdige Meinung. Glaubt denn der Autor, dass es für Bayern oder Baden-Württemberg in Deutschland so einfach ginge, tschüss zu sagen? Wir machen jetzt einen neuen wirtschaftlich starken Staat: Baden-Württemberg-Bayern! Iss nich, da reicht ein kurzer Blick ins Grundgesetz!

    • @Wilfried Bergmann:

      In Ba-Wü besteht kein Wunsch nach einem eigenen Staat.



      Außerdem ignorieren Sie den Wunsch des Großteils der Katalaninnen und Katalanen (mehr als 70%) nach einem ausgehandelten Referendum zur Unabhängigkeit.



      Es geht hier um die Verletzung von elementaren Grundrechten und um einen autoritären Staat mit politischen Gefangenen, mitten in der EU.

      • @Priest:

        Es besteht keine Mehrheit für eine Unabhängigkeit in Katalonien. Wenn es sie in dem illegal durchgeführtem Referendum gab, geschah die weil es nur eine Wahlbeteiligung von 43,03 % gab. Die Mehrheit derer die in Spanien verbleiben wollen sind an dem 1. Oktober zu Hause geblieben. Aktuell gibt es keine Mehrheit für das Luftschloss der Unabhängigkeit.

        Zu den politischen Gefangenen. Die existieren nicht. Das Govern (die Regionalregierung) wurde verurteilt weil es gegen die Verfassung verstieß. Wo wären wir in einer Demokratie wenn zugelassen werden würde dass die Verfassung mit Füßen getreten wird? Genau! Nirgendwo.

        An die Redaktion der taz hätte ich außerdem die Bitte künftig nicht nur einseitig über den Katalonienkonflikt zu berichten, denn in ihren Berichten herrscht meistens die Perspektive der Unabhängigkeitsanhänger. Darum ermuntere ich Sie zur journalistische Neutralität.

        Quellen:



        Wahlbeteiligung: www.google.com/amp...o.html%3ffacet=amp



        Unabhängigkeitsbefürwortung:



        www.google.com/amp...50_826665.amp.html

    • @Wilfried Bergmann:

      Stimmt nicht: im Saarland gab es Volksabstimmungen zur Frage der Zugehörigkeit zu F oder D. Baden-Württemberg wurde in den 1. Jahren der BRD aus 3 Ländern zusammengeführt. Und in SH, HH, NS und HB flackert immer mal die Diskussion um den Nordstaat auf. Alles Verfassungsfeinde? Darüberhinaus steht das Selbstbestimmungsrecht der Völker über dem Recht eines einzelnen Staates. China will aber auch nicht Tibet hergeben…

  • Ihre Berichte zum spanisch-katalanischen Konflikt sind zu katalanistenlastig.



    Es ist ein grundlegendes Problem, dass die spanischen staatstragenden Parteien auf dem Weg in die Demokratie anscheinend zu viele Kompromisse gemacht haben. Ihre damalige Überschrift "Spanische Härte" trifft sicherlich eine Charakteristik der spanischen Politik und der Politisierung der Justiz. Ja, und die Volkspartei PP sowie weite Teile der sogenannten "Sozialistischen Arbeiterpartei", die so gar nichts sozialistisches hat, machen keine überzeugende Politik. Ja, und die PP hat eine Rhetorik und ein Verhalten, das normalerweise als rechtsextrem eingestuft würde.



    Aber das macht die Katalanisten nicht gut. Sie reden von Demokratie und Freiheit, die sie aber nur für sich selber einfordern. Wenn man hier lebt und eine irgendwie andere Meinung zum Thema vertritt, drehen sich Katalanisten einfach um und gehen, nicht ohne einen mit dem Vorwurf des Faschismus zu belegen. Und die überbordende Präsenz im öffentlichen Raum, die Manipulation im "Geschichts- und Geografieunterricht" werden als Meinungsfreiheit betitelt.



    Lassen Sie sich nicht manipulieren. Von keiner Seite! In diesem Konflikt werden Überschriften und Inhalte verschoben, wie Textbausteine. Demokrat, ist, wer die Verfassung respektiert, die PP schuf den Ausdruck der "Konstitutionalisten". Oder: Demokrat ist, wer sich gegen die "faschistischen" Altparteien stellt, die "Antikonstitutionalisten".



    Die Katalanisten hatten damals, wie Sie sagen einfach nur Urnen aufgestellt - nun ja, sie hatten per Parlamentsbeschluss ein nicht abgestimmtes Referendum abgesegnet und angekündigt, dessen Resultat umzusetzen; u.a. wurde ein katalanisches Finanzamt aufgebaut; man erklärte die Verfassung Spaniens als als nicht demokratiekonform und daher als ungültig. Und für dieses Verhalten wurden sie angeklagt und verurteilt, nicht dafür, dass sie eine andere Meinung vertreten.



    Andernorts würde man das Krise der Demokratie nennen. Diskurs bitte!!!

    • @dieser Mensch:

      Ja es stimmt: es gibt in Spanien eine Krise der Demokratie. Langjährige politische Inhaftierung oder Amtsenthebungen verschärfen diese Krise. Jetzt wurde erneut ein Präsident der katalanischen Regierung amtsenthoben - von einem Wahlamt: Grund: er hatte vor den Wahlen die gelbe Schleife (Solidaritätsbekundung mit den inhaftierten Politikern) nicht vom Regierungspalast entfernt. Grotesk. Spaniens & Kataloniens Regierungen müssen reden. Erstaunlich, dass es in Europa keine Mediator*innen gibt. Diskurs ja, unbedingt. Die Parole heißt jetzt: sit and talk!

    • @dieser Mensch:

      Die üblichen Berichte suchen die Schuld auf beiden Seiten, um Neutralität zu bewahren, aber in diesem Fall ist die Sachlage eindeutig.

      Eine nationale Minderheit sucht einen Weg in die Freiheit.



      Ein multinationaler Staat leistet sich trotz Anerkennung von internationalem Recht und gemeinsamer EU-Werte politische Gefangene, physische und psychische Gewalt und Geiselhaft.

  • Das Verhalten der spanischen Berichterstattung ist falsch.

    Die vorliegende Berichterstattung ebenfalls. Die zuständigen Behörden in Belgien und Deutschland hätten die Auslieferung vollzogen. Allerdings nur eingeschränkt wegen Veruntreuung. Insoweit haben beide Justizbehörden zu erkennen gegeben, dass ein strafbares Verhalten von Herrn Puigdemont sehr wohl in Frage kommt.

    Zu einer Auslieferung kam es jeweils nur deshalb nicht, weil Spanien die entsprechenden Anträge zurück gezogen hat. Insoweit sollte auch das Verhalten von Herrn Puigdemont nicht verharmlost werden.

    Der Königsweg wäre ein Antrag auf Aufhebung der Immunität. Es gibt für die EU-Abgeordneten keinen Grund, diesem nicht zu zustimmen.

    Da absehbar ist, dass sich Herr Junqueras in einem weiteren Verfahren ebenfalls ins Ausland absetzen wird, um einer Bestrafung zu entgehen, ist das Verhalten der spanischen Justiz zumindest emotional nachvollziehbar.

    Und im Übrigen handelt es sich bei der Einheitlichkeit des Landes nicht um ein veraltetes Konzept sondern um eine pragmatische Lösung, welche die Mehrheit der Mitgliedsstaaten der EU in ihrer jeweiligen Verfassung aufgenommen hat. Im Falle Spaniens haben die Bürger im Rahmen einer Volksbefragung mit weitaus überwiegdener Mehrheit zugestimmt.

    • @DiMa:

      Was Sie ausklammern, ist die Frage, warum Spanien den Auslieferungsantrag zurückgezogen hat.

      Wohl nicht, weil es kein Interesse mehr an einer Strafverfolgung von Puigdemont gäbe.

      Es ist gesichtswahrender, einen Antrag zurückzuziehen als eine Abfuhr zu bekommen.

  • Also, Spanien will nicht, das Katalonien unabhängig wird und eigenes Recht schafft, stellt sich selbst aber ungerührt und quasi unabhängig von Europa da.

    Diese Realität neuersings. Wenn es einen Gott gibt, hat er Monty Python ans Ruder gelassen

  • Alles völlig richtig. Nur: Will das in Spanien irgendjemand hören?