: Trainer, ich heiße Timo!
Beim 31:23-Sieg über Weißrussland sorgt Rechtsaußen Timo Kastening dafür, dass das deutsche Team vom Halbfinale bei der Handball-EM träumen kann. Nun kennt ihn auch der Trainer
Aus Wien Michael Wilkening
Vielleicht bin ich zu klein“, hatte der Rechtsaußen der Nationalmannschaft gewitzelt, nachdem er unfreiwillig einem Millionenpublikum bekannt gemacht wurde. Bundestrainer Christian Prokop hatte während einer im Fernsehen übertragenen Auszeit bei der Partie gegen die Niederlande eine „Wortfindungsstörung“ gehabt und in Richtung Kastenings gefragt: „Wie heißt du?“
Die Szene, die der Spieler mit einem deutlichen „Timo“ beendete, startete anschließend ihren Lauf durch die sozialen Medien, sie wurde ein viraler Hit.
„Vielleicht werde ich mal übersehen“, erklärte Kastening lachend. Bis zum Beginn der EM kannten den immerhin 1,80 Meter großen Linkshänder nur die Handballinsider, durch den Fauxpas des Bundestrainers plötzlich alle – gegen die Weißrussen unterfütterte er seine Popularität mit einer Glanzleistung.
„Ich bin froh, dass er hier in meiner Mannschaft spielt, da habe ich ihn lieber“, sagte Julius Kühn. „Im Verein als Gegner ist er sehr unangenehm“, fügte der Rückraumspieler der MT Melsungen an, der selbst – wie Kastening – einen unfreiwilligen Popularitätsschub bekam: Er wurde nach der Pause in der Kabine eingeschlossen. Nach Klopfen kam er zum Team zurück, und Trainer Prokop musste bekennen, dass ihm Kühns Fehlen nicht aufgefallen war.
Wie Kühn, der Shooter im deutschen Team, sehen es alle Kollegen, die es in der Liga schon mit Kastening zu tun bekommen haben. Der Rechtsaußen wirft nicht einfach nur Tore, sondern er wirft oft die Tore, die dem Gegner besondere Schmerzen bereiten. Treffer, die einen Gegner lähmen und ihm die Energie aus dem Körper saugen können.
„Der schleicht sich da aus 1,50 Metern an und klaut den Ball. Das macht er überragend“, lobte Kapitän Uwe Gensheimer den Mitspieler. Gegen die Weißrussen fing er mehrfach Pässe ab und verwertete sie im Gegenstoß. Zudem nahm er sich nach einem Gegentreffer in der schnellen Mitte den Ball, übersprintete den verdutzten Kontrahenten und traf wenige Sekunden später auf der anderen Seite. Es sind die im Handballjargon titulierten „einfachen Tore“, die dem eigenen Team einen mentalen Aufschwung verleihen und das Gegenüber demoralisieren können.
Die Spielweise Kastenings ist mehr wert als die pure Anzahl seiner Treffer – und deshalb hat er sich in den Tagen von Trondheim und Wien als extrem wertvoll für die deutsche Mannschaft erwiesen.
Zunächst überraschte seine Nominierung für den EM-Kader, weil dafür die langjährige Stammkraft Patrick Groetzki von den Rhein-Neckar Löwen weichen musste. Inzwischen bestätigt Timo Kastening die Entscheidung Prokops eindrucksvoll.
Schon beim mauen 28:27- Vorrundenkehraus gegen Lettland stand Kastening in der Startformation und verdrängte die eigentliche Nummer eins, Tobias Reichmann. Gegen Weißrussland wurde er zur spielentscheidenden Figur. Mit seiner Leichtigkeit, der Unbekümmertheit und der Gier steckte er die Spieler um sich herum förmlich an. „Der tut jeder Mannschaft gut, weil er unbekümmert ist“, sagte Bob Hanning, Vizepräsident des Handballbunds: „Er macht sich nicht so einen Kopf wie ein erfahrener Spieler, und das kann in solchen Situationen helfen.“
Die Lage bei den deutschen Handballern war zum Ende der Vorrunde ziemlich vertrackt. Die 26:33-Niederlage gegen die Spanier hatte dem Team das Selbstvertrauen entzogen, der 28:27-Zittersieg gegen Handballzwerg Lettland das Selbstverständnis geraubt. Es bedurfte deshalb mehr als eines Ortswechsels von Trondheim nach Wien, um aus der negativen Spirale entfliehen zu können. Es brauchte mehr als die vielen Fans, die in der Stadthalle für Emotionen sorgten – es musste Spieler geben, die ein Signal senden. Kastening war dabei der Auffälligste.
Der Rechtsaußen hat sich damit einen Namen gemacht, der auf seiner Leistung und nicht auf einem Fauxpas seines Trainers beruht. Kastening steht für die neu erweckte Hoffnung, dass die deutschen Handballer doch noch ein erfolgreiches Turnier spielen können. Er selbst bleibt dabei locker – und genießt es, in Wien zu sein: „Es gefällt einem hier. Kaffee geht bei mir immer – und guten Kaffee gibt es hier gefühlt überall.“
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