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„Wachstum hat mit Demokratie wenig zu tun“

Der Ökonom Ümit Akçay geht davon aus, dass die Krise in der Türkei noch nicht überstanden ist. Ein Gespräch über die Ursachen, die Wirtschaftspolitik der AKP und vermeintliche Alternativen

Interview Eren Paydaş

taz.gazete: 2019 gingen Beobachter davon aus, dass die Wirtschaftskrise in der Türkei die AKP-Regierung herausfordern würde. Lagen sie falsch?

Ümit Akçay: Die Krise setzt sich fort. Die Arbeitslosigkeit liegt derzeit bei 14 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit hat schon die Marke von 25 Prozent überschritten. Damit die Zahl der Arbeitslosen nicht weiter steigt, muss es 2020 ein Wirtschaftswachstum von 4 bis 5 Prozent geben. Die optimistischsten Prognosen liegen aber bei 3 Prozent. Es ist schwer vorauszusehen, welche Folgen diese Entwicklungen haben werden. Eine derart langfristige Arbeitslosigkeit ist neu in der AKP-Ära. Die Regierung muss dieser Herausforderung irgendwie begegnen. Nur weil sie sich bisher keinem Programm des Internationalen Währungsfonds untergeordnet hat, konnte sie sozialstaatliche Programme fortsetzen und weiterhin öffentliche Ausgaben tätigen – und so den Markt in Bewegung halten.

Um die Wirtschaftspolitik der AKP zu beschreiben, verwenden Sie die Bezeichnung „autoritäre Konsolidierung“. Was meinen Sie damit?

Falls die AKP diese Krise tatsächlich durchsteht, dann könnte sie ihr ökonomisches Modell institutionalisieren. Denn Wirtschaftswachstum hat wenig mit Demokratie zu tun. Wenn internationale Investoren das Funktionieren von Rechtsstaatlichkeit als Grundvoraussetzung für Investitionen definieren würden, dann gäbe es global gesehen nur sehr begrenzt Investitionen. Das ist aber nicht der Fall. Kapital fließt in Staaten mit sehr unterschiedlichen politischen Systemen. Und überall, wo es hinfließt, kann das Kapital Strategien entwickeln, die den jeweils spezifischen Bedingungen vor Ort entsprechen.

Konkret heißt das, dass Kapitalismus auch ohne Rechtsstaat funktioniert?

Ja. Meistens ist es für das Kapital sogar günstiger, sich mit einer einzigen autoritären Instanz zu arrangieren statt mit einem ganzen bürokratischen Komplex. Wenn es um die Rechte von Arbeitern und Arbeiterinnen geht, profitiert es von den Repressionsmöglichkeiten eines autoritären Regimes. Andererseits weiß ein autoritärer Führer auch, dass er nur so lange an der Macht bleiben kann, solange es wirtschaftliches Wachstum gibt.

Und deshalb gibt es wirtschaftlich gesehen weiterhin ein starkes Band zwischen Erdoğan und dem Westen?

Erdoğan versteht es sehr gut, die Flüchtlingskarte zu spielen. Er denkt, er sei „too big to fail“. Ein Beispiel: Als es 2018 zum Zerwürfnis zwischen den USA und der Türkei kam und der Konflikt zu einer Währungskrise ausartete, kam ihm die deutsche Regierung zur Hilfe. Es wurde ein Treffen von Ministern beider Länder organisiert. All das geschah zu einer Zeit, in der die Menschenrechtslage in der Türkei und auch die Verhaftung des Journalisten Deniz Yücel kontrovers diskutiert wurden. Deshalb ist es überhaupt nicht überraschend, dass Volkswagen Investitionen in der Türkei plant. Mercedes hat vergangenes Jahr in Russland investiert.

Aber gibt es einen Zusammenhang zwischen der autoritären Umgestaltung der Türkei und der ökonomischen Krise?

Unter Oppositionellen ist es weit verbreitet, die wirtschaftliche Krise auf die autoritären Entwicklungen im Land zurückzuführen. Viele haben behauptet, dass mit dem neuen Präsidialsystem das Vertrauen der Märkte in die türkische Wirtschaft schwinden würde. Oder dass mit der abnehmenden Rechtsstaatlichkeit auch internationale Investitionen im Land abnehmen würden. Aus dieser Perspektive gibt es keine Möglichkeit, die Krise zu überwinden, solange Erdoğan an der Macht ist. Die Fakten aus der Vergangenheit sprechen aber eine andere Sprache. Wenn wir das Jahr 2013, als die Gezi-Proteste niedergeschlagen wurden, als Zeitpunkt der autoritären Wende nehmen, sehen wir, dass die Investitionen von damals bis ins Jahr 2018 nicht abgenommen haben.

Dennoch: Wie wirkt sich die prekäre Wirtschaftslage auf die Zustimmung für Erdoğan aus?

Für die AKP-Regierung war es wichtig, die lohnabhängige Bevölkerung und die unteren Klassen in das Finanzsystem zu integrieren. Das hat neue Möglichkeiten der privaten Verschuldung geschaffen und ärmste Bevölkerungsteile haben Zugang zu Krediten erhalten. Heute nehmen selbst Menschen Kredite auf, die weniger als den Mindestlohn verdienen. Bei diesen Menschen herrscht eine Wahrnehmung von Wohlstand vor, obwohl sie arm sind – weil sie schuldenbasiert konsumieren können, obwohl die Reallöhne eigentlich nicht steigen. Andererseits wissen sie sehr wohl, dass sie sich verschulden. Das stärkt ihren Wunsch nach politischer Stabilität.

Warum ist diesen Menschen Stabilität wichtig?

Wenn die politische Stabilität fragil wird, dann steigen die Zinsen und die individuelle ökonomische Situation der Menschen verschlechtert sich. Davor haben die Menschen Angst. Diese Angst nutzt die AKP, um ihre Regierung zu festigen. Es gibt dabei aber ein großes Risiko: Wenn sich das Wirtschaftswachstum im kommenden Jahr tatsächlich auf 3 Prozent beschränkt oder sogar noch geringer ausfällt, dann bekommen die Banken große Probleme mit Kredit­ausfällen.

Ehemalige AKP-Politiker bemühen sich derzeit um konkurrierende Parteiprojekte. Sie propagieren auch eine radikale Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik. Sind die Vorschläge des ehemaligen AKP-Wirtschaftsministers Ali Babacan tatsächlich innovativ?

Nein. Babacan möchte zum Wirtschaftsprogramm der 2000er Jahre zurückkehren. Das sieht unabhängige wirtschaftspolitische Institutionen wie eine unabhängige türkische Zentralbank vor, die die türkische Lira stärken soll. Das Problem dabei ist nur, dass die gegenwärtige Krise das Resultat ebenjenes Wirtschaftsprogramms ist. Als die türkische Lira gegenüber den anderen Währungen an Wert gewann, wurde es hierzulande günstiger, Güter zu importieren, als sie selbst zu produzieren. Die türkische Industrie konnte deshalb nicht mehr mit ausländischen Produzenten mithalten. Und wenn diese Situation 15 Jahre anhält, dann verringert sich der Anteil der nationalen Produktion am Bruttoinlandsprodukt. Eine gute Idee zur Krisenlösung ist das nicht.

Haben die anderen Oppositionsparteien gute Ideen?

Die CHP hat kein alternatives Wirtschaftsprogramm. Sie verfolgt keine grundlegende ökonomische Neuorientierung, sondern will lediglich das bestehende Modell besser und kompetenter fortführen. Das löst aber nicht die Probleme der unteren Klassen. Die HDP dagegen hat an Modellen gearbeitet, die auf der Idee von Autonomie basieren. Unter der gegenwärtigen Repression hat sie aber keine Chance, Ideen zu verwirklichen.

Aus dem Türkischen von Volkan Ağar

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