Zusammenspiel von Psychiatrie und Politik

An der Schnittstelle von Wahnsinn und Kolonialismus: Doppelausstellung „Ultrasanity“ in der ifa Galerie und Savvy Contemporary

Die Kunstwerke sind interpretations­-offener als der Kontext, in dem sie eingebettet sind

Von Tom Mustroph

Wahnsinn kann politisch sein. Das weiß man spätestens seit Michel Foucaults epochalem Werk „Wahnsinn und Gesellschaft“. Auch die mittlerweile vielfältige Literatur über die Rolle des Krankheitsbildes der Hysterie als – ziemlich lange erfolgreichem – Versuch der Pathologisierung des Ausbrechens von Frauen aus patriarchalen Mustern liefert zahlreiche Belege für das Hand-in-Hand-Gehen von Politik und Psychiatrie.

Die Ausstellung „Ultrasanity“ geht nun an gleich zwei Berliner Standorten – der ifa Galerie in Mitte und dem Projektraum Savvy Contemporary in Wedding – dem Beziehungsgeflecht von Psychiatrie und Kolonialismus nach. Dies geschieht in Form von Aufarbeitungen. Ein ganzes Literaturbord mit einschlägigen Titeln ist in der ifa Galerie aufgebaut und gibt Einblick in das Forschungsfeld der kolonialen Medizingeschichte, die sich in den letzten drei Jahrzehnten vor allem in Afrika, Indien, der Karibik und Australien herausgebildet hat. Darin wird untersucht, wie Anstalten für psychisch Kranke in das allgemeine koloniale Unterdrückungssystem eingebettet waren.

Auffallend: Weiße wurden vor allem dann weggesperrt, wenn sie sich zu sehr von der Norm ihrer gesellschaftlichen Gruppe entfernt hatten. Eingeborene hingegen kamen in die „Klapse“, wenn sie sich zu sehr dem Verhalten der kolonialen Eliten genähert hätten. Sie waren also nicht mehr „die Anderen“, sondern nur noch „unwesentlich anders“, argumentiert Megan Vaughan, eine Pionierin von Afrikas Medizingeschichte. Nicht selten waren die afrikanischen Patient*innen der Forschungslage nach gebildeter, vor allem mobiler und daher schlechter in die kolonialen Arbeitsregimes einzuordnen als die Mehrheitsbevölkerung. Die weißen Patient*innen hingegen hätten sich mit ihren impulsiven Ausbrüchen, ihrem Alkoholismus und ihrer stärker ausgelebten Sexualität dem Klischee des Einheimischen genähert. Beide Gruppen wurden nach dieser Lesart eben auch, vielleicht sogar vor allem deshalb, zu Patient*innen, weil sie die Klassen- und Rassenschranken des kolonialen Systems zumindest an einigen Stellen perforierten.

Eine wichtige Gestalt in diesem Zusammenhang war die Xhosa-Frau Nontetha Nkwenkwe, die nach dem Überleben einer Influenza-Epidemie zu einer spirituellen Führungsgestalt im südlichen Afrika heranwuchs. Sie wurde zunächst von den kolonialen Obrigkeiten geduldet, weil sie ihre Anhänger zu Alkoholabstinenz und Ordnung aufrief, erschien bald aber aufgrund ihres wachsenden Einflusses als Bedrohung für das herrschende System. Sie wurde verhaftet und bis zu ihrem Tode im Jahr 1935 über mehr als zwölf Jahre in Nervenheilanstalten weggesperrt.

Die künstlerischen Arbeiten nehmen Bezug auf solche Geschichten. Die tschechische Künstlerin Eva Koťátková etwa inszeniert einen Stuhlkreis. Einzelne Stühle sind dabei auf den Boden geworfen – wohl stumme Zeugen eines Ausbruchs von Emotionen. Kleidungsstücke liegen und hängen auf den Stühlen, die mit Wunden versehen sind. Rote Fetzen wehen wie fließendes Blut, Zähne haben sich ins Textil gegraben. Dornen stehen heraus. Koťátková hatte in Performances die Kinder ermuntert, Geschichten von Menschen und Dingen zu erzählen, die zuvor zum Schweigen gebracht worden waren.

Dieses Befreiungsmoment zeichnet auch andere Arbeiten aus. Die Psychiaterin und Künstlerin Jaswant Guzder aus dem kanadischen Montreal etwa erzählt in Bildern und Texten von gemeinsamen Sitzungen und Gesprächen über die ganz verschiedenen migrantischen Wurzeln der kanadischen Gesellschaft.

Die südafrikanische Künstlerin Tracey Rose schließlich führt in der Videoarbeit „La Nave Madre Exterminate All the Brutes’“ diese Befreiungsarbeit auf ganz besondere Höhen. Durchs Museum Reina Sofia in Madrid, aber auch durch die nächtlichen Straßen der spanischen Hauptstadt lässt sie eine Truppe von randständigen Gestalten ziehen. Zu ihnen gehören eine nackte afrikanische Frau, ein Mann in Bundeswehruniform und ein anderer, der mit einem Schwert bewaffnet ist. Sie treten in Kontakt mit Kunstwerken, irritieren Ausstellungsbesucher und Passanten.

All dies setzt Bewusstseinsströme frei, die freilich über den Kontext von Kolonialismus und Psychiatrie weit hinausgehen. Die künstlerischen Arbeiten sind interpretationsoffener als der historisch-politische Kontext, in dem sie eingebettet sind. Das lässt die Kuratierung dann auch etwas beliebig erscheinen. Verdienstvoll bleibt aber, dieses Großthema überhaupt in Angriff genommen zu haben. Die Ausstellung stellt das vierte Kapitel eines längeren Untersuchungs- und Ausstellungsprozesses mit Partnerorganisationen auch in Afrika dar.

„Ultrasanity“: bis 9. 2. ifa Galerie, bis 26. 1. Savvy Contemporary