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Der Bundi

Wer in den 80ern nicht zum Bund wollte, zog nach West-Berlin. Man durfte sich beim Elternbesuch nur nicht am Grenzübergang erwischen lassen

Von Ulli Kulke

Ob Kalle auch mal so ein Erlebnis hatte? Als ich in den 80er Jahren einmal per Anhalter über die Transit-Autobahn nach Berlin fuhr und am westlichen Kon­troll­punkt Helmstedt der Mann vom Bundesgrenzschutz aus seinem Häuschen heraus die vier Insassen des BMW, alle irgendwie Anfang zwanzig, besonders scharf anschaute: „Na, meine Herren, wer von Ihnen muss denn noch zur Bundeswehr?“ Fünf Sekunden sagte niemand etwas, dann gab der Grenzer die Papiere zurück, grinste, und sagte: „Gute Fahrt.“ Bei mindestens einem im Auto war das Herz da ein wenig in die Hose gerutscht. Der Mann im Häuschen hatte seinen Spaß gehabt.

Es war nicht immer nur Spaß. Es soll vorgekommen sein, dass am Grenzübergang hinterm Busch die Feldjäger warteten und den einen oder anderen wehrpflichtigen, aber frohgemut nach Berlin abgehauenen Studenten einkassiert haben, wenn der Weihnachten zu seinen Eltern nach Wanne-Eickel oder Salzgitter fahren wollte. Und ab ging es gleich in die nächste Kaserne. Kalle war ja auch so einer. Nur deshalb also kam Kalle damals, nach dem Abitur, nach Berlin – und deshalb später zur taz. Auch er gehörte zu dieser Drückeberger-Kolonne. Vielleicht war er ja auch ein bisschen stolz darauf, dass der frühere Bundesverteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel diese Jungs einmal als „clevere Burschen“ bezeichnete. Mich hatte der Minister natürlich auch gemeint, den späteren Sport-Redakteur Matti auch, meinen Schulnachbarn, mit dem ich damals zusammen aus Braunschweig nach Berlin ging, um der Bundeswehr zu entgehen. Und, ganz nebenbei, auch an der FU Wirtschaft zu studieren, wo wir dann auch Kalle kennenlernten, der aus Salzgitter kam, gleich bei uns um die Ecke.

Der besondere Status West-Berlins, auf den auch die West-Alliierten Wert legten, sorgte dafür, dass die Stadt Bundeswehr-frei blieb, bis zum Mauerfall 1989. Kein West-Berliner musste deshalb Wehrpflicht ableisten. Aber wer war West-Berliner? Und wer Bundesdeutscher? Wer da meinte, der Fall sei erledigt, wenn er nur nach dem Abi­tur nach Kreuzberg zog, dort eine Wohnung mietete und laut sagte „Ich bin ein Berliner“ – der konnte sein polizeiblaues Wunder erleben. In den 60er Jahren sahen sich von denen einige sogar verschlafen im Flugzeug nach Hannover wieder, nachdem sie in den frühen Morgenstunden aus ihrer Kreuzberger Hinterhof-Bleibe abgeholt worden waren. Das untersagten zwar sehr schnell die Alliierten, aber dann gab es ja immer noch die Feldjäger und ihren Busch hinter der Grenze bei Helmstedt-Marienborn.

Laut Wehrdienstgesetz galt für jeden, den das Kreiswehrersatzamt – schon im Alter von 16 oder 17 – „erfasst“ hatte, als Lebensmittelpunkt der Ort, an dem seine Eltern wohnten, nicht aber sein Studienort. Auch dann nicht, wenn er sich polizeilich umgemeldet hatte. Wenn Papa und Mama also nicht nach Berlin mit umgezogen waren, hatte alles keinen Sinn, es sei denn, man blieb bis zum Alter von 33 nur in West-Berlin und trat seinen Urlaub über den Flughafen Schönefeld an (überallhin, nur nicht nach West-Deutschland). Manch einer sicherte sich doppelt ab, stellte zusätzlich einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung oder verwirrte die Wehrbehörden anderweitig, der eine mit Erfolg, der andere ohne.

Auch Kalle gehörte zu dieser Drückeberger-Kolonne

Andere aber blieben einfach cool und ließen es – als nicht anerkannte Neu-Berliner – drauf ankommen. Die Feldjäger saßen ja nun auch nicht immer hinterm Busch. Kalle war auch so einer. Er fuhr die Transitstrecke und holte hinter Helmstedt einfach tief Luft, Augen zu und durch. Kalle soll ja sonst auch ziemlich cool sein. Clever sind wir, wie gesagt, alle. Amtlich bestätigt, vom Minister.

Eins noch, Kalle: Wo ist eigentlich dein Wehrpass? Hast du ihn noch? Schau mal rein, was da alles so drinsteht, was man tun und lassen muss und was einem da blüht. Eigentlich musst du sofort zurück nach Salzgitter. Hättest ja jetzt auch Zeit. Aber pssst.

Ulli Kulke, 67, war viele Jahre taz-Redakteur. Er wuchs in der gleichen Gegend auf wie Kalle – und drückte sich genau wie er um den Wehrdienst.

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