: Leider nur ein kurzer Aufschrei
In der Schwankhalle bringt Michael Rettig Didier Eribons autobiografischen Roman „Rückkehr nach Reims“ als Musiktheaterstück auf die Bühne. Mit leider nur Ansätzen einer diskursiven Produktion
Von Jens Fischer
Das immer mal wieder schwadronierte Interesse der akademischen Kulturlinken, etwa des Schwankhallenpublikums, an den Deklassierten der Gesellschaft ist vielfach höhnischem Desinteresse gewichen, seit sie ihr Selbstbewusstsein nicht mehr mit der Wahl von Kommunisten, Sozialisten oder schlimmstenfalls Sozialdemokraten ausdrücken, sondern Front National oder AfD wählen. Der französische Soziologe Didier Eribon ist eine personifizierte Schnittstelle der Welten. Einst litt er unter den Beschränkungen seiner Unterschichtfamilie: die Mutter war Putzfrau, der Vater ein prügelnd homophober Hilfsarbeiter. Als erwachsener Linker habe er, so Eribon, die Arbeiterklasse dann zwar offiziell glorifiziert, sie inoffiziell aber als kulturfernes Milieu voller Ressentiments, tief sitzendem Rassismus, Neid getriebenem Materialismus und dem gewalttätigen Männlichkeitskult verabscheut, ja, sich für seine Herkunft geschämt. Auch weil er dort als Homosexueller ständiger Diskriminierungen ausgesetzt war.
Zur Aussöhnung kehrte er nach zwei Jahrzehnten vermiedenen Kontaktes wieder ins proletarisch geprägte Elternhaus in die Banlieu einer mittelgroßen Kleinstadt zurück. Die Erlebnisse erschienen als sozialwissenschaftlich-autobiografische „Rückkehr nach Reims“. In seiner klugen Analyse von Spielarten linker Politik findet Eribon Ursachen des Rechtspopulismus.
Michael Rettig zeichnet nun verantwortlich für Regie, Pianospielen und eine sehr geschickt gekürzte Stückfassung. „Musiktheater“ bezeichnet er seine Produktion in der Schwankhalle, die sich gegen diejenigen abgrenzt, deren Nöte verhandelt werden. Da ist einmal die spröde-maulige Intellektualität des auktorialen Textes, den Ralf Knapp mit angemessen berührter Sachlichkeit vornehmlich hinterm Notenpult rezitiert, mal leise nachdenklich verflüstert, mal aufbrausend seriös in seinem Unbehagen. Dann wieder schlaubergernd arrogant, gramvoll schuldbewusst oder von Mitleid gepeinigt. Andererseits wird Eribons Kritik an den Kulturlinken mit einem gerade dort geschätzten distinktiven Soundtrack dargeboten – sie darf sich also weniger ausgebuht und heimisch fühlen beim kammertriospröden Akzentuieren, flirrenden Untermalen und störgeräuschhaften Aufschrecken des Geschehens. Etwa wenn es heißt, soziale Ungleichheit sei „in Wahrheit nackte Ausbeutung, Gewalt“. Anschließend laufen Bilder der 1968er-Revolten, begleitet von aufrührerischen Klangkonvulsionen. Die akustische Kommentarfunktion ist häufig illustrativ, Saiten werden beispielsweise melancholisch gestrichen – beim Tod des Vaters. Oder lassen Klänge bedrohlich aufwallen, wenn Eribon „mit seinem Milieu als sozialer Klasse“ bricht. Geht es ums Ausleben schwulen Begehrens ist Polizeisirenengeheul zu hören. Eribons Mutter darf sich ab und an aus dem Off einmischen. Die Musiker sich allzu selten mal chorisch einbringen. Karges Theater.
Einmal packt Rettig aktualisierend zu. Eribon wird mit einem Interview-Statement zur Gewalt der Gelbwesten-Demos eingeblendet: Die Verheerungen des globalisierten Kapitalismus seien derart groß, dass er sich über die Zerstörung eines Chanel-Shops auf der Champs-Élysées nicht wirklich aufregen könne. Daraufhin kommt eine namenlose Lausitzerin zu Wort, die die kulturlinken Bioweinsäufer anklagt, keine Me-too-Bewegung gegen unwürdige Arbeitsverhältnisse zu unterstützen – und den Verlust von Arbeit und Identität in der ehemaligen DDR beschreibt. Endlich ist die Aufführung kein trauriger Abgesang mehr, sondern wütender Aufschrei. Nicht mehr artifiziell, sondern ungemütlich direkt. Das wäre der Ansatz für eine diskursive Produktion gewesen. So ist vor allem ein kunstweihevoller Abend kulturlinker Kritik an Kulturlinken zu erleben.
30. 11. und 1. 12., 19 Uhr, Schwankhalle
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