piwik no script img

Melancholie ging hier immer

Von Nelly Rau-Häring (Fotos) und Katrin Bettina Müller(Text)

Wir machen es uns trotzdem schön. Schön war Berlin noch lange, lange nicht, als die junge Schweizerin Nelly Rau-Häring 1965 hier zu fotografieren begann, Nachkriegsverbitterung hauste in den Gesichtern und zernarbte die Stadt. Wie die Menschen der Hässlichkeit der Stadt zu trotzen suchten, Autos wuschen am Sonntag, frisch toupiert zum Oktoberfest in die grauslichen Messehallen gingen, Hertha zujubelten, spazieren gingen zwischen Mauer und zerschossenen Hausfassaden, Nelly Rau-Häring hat es mit einer Großzügigkeit festgehalten, die kein Herabblicken auf das Kleinbürgerliche kannte.

Plakatkleber, die mit Fahrrad und Leiter auf dem Rücken zu Litfaßsäulen zogen, Kiezkneipen, in denen auch noch George Grosz und Heinrich Zille hätten sitzen können, ihr Berlin der 1960er Jahre sieht oft noch älter aus. Und das der 1980er Jahre wiederum ähnelt noch immer der Stadt von davor. Nebel und Schneereste am Straßenrand, zugige Autotrassen, die nie zum Boulevard werden, Melancholie ging hier immer in Ost und West.

Nach Ostberlin fuhr Nelly Rau-Häring oft. Studierte die Zeichen, die werbenden Schriftzüge, „PGH ‚Elegant‘ “ im kleinen Backsteinhaus, die oft skurril in der bescheidenen Kulisse wirkten. Die Wirklichkeit kam nie ganz ran an die Verheißung. Warum hängt sich jemand ein Porträt von Karl Marx zwischen Gardine und Fenster, wo sonst der Trockenblumenstrauß steht? Aus politischer Überzeugung? Weil er es schön findet?

Ihre Geschichten sind leise, humorvoll, voller Zuneigung. Vom nicht Perfekten gab es in Berlin reichlich, ihre Bilder sind eine Liebeserklärung daran. Sie blieb vierzig Jahre in der Stadt, bevor sie 2006 nach Basel zog. Für die taz hat sie übrigens auch fotografiert.

Die Kinder, die neben der Hochbahn über die Eberswalder Straße rennen, 1985, rannten noch durch Ostberlin. Hier drängeln sich heute Passanten und Touristen an den Ampeln. An wiedererkennbaren Orten stellt man gerne die lärmende Gegenwart neben ihre Bilder. Wie das Licht durch die Bögen der Hochbahn und die Fenster des Busses fällt, wie die Schatten mit den Kindern laufen, das erlebt man selten so bewusst wie bei der Betrachtung ihrer Fotografie.

Am Potsdamer Platz steht 1994 eine Familie auf Erdhügeln und schaut in die Leere des ehemaligen Mauerstreifens, als wäre es eine sehnsuchtsvolle Ferne. Hinter ihnen die Plattenbauten in der Wilhelmstraße, Neubau Ost. Das Unfertige der Stadt war auch in den Nachwendejahren lange noch nicht zu Ende. Das lässt sich in ihrem Buch auf das Schönste verfolgen.

Fotobuch „Ost/West Berlin“, Nelly Rau-Häring,192 Seiten, Hatje Cantz Verlag, Berlin 2019, 38 Euro

Ausstellung „Ost/West Berlin“, f[3]– freiraum für fotografie, Berlin, bis 19. Januar 2020

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen