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Oh deer!

Basisdemokratie in der Möglichkeitsform: In München hat sich das Ayşe X Staatstheater für vier Tage manifestiert mit einer Aufführung und Wünschen für die Zukunft

Von Sabine Leucht

Emre Akal kann große Bilder. Darum ist es ein Glück, dass die Eröffnung des Ayşe X Staatsthea­ters von seiner neuen Inszenierung sekundiert wird. „Nur ihr wisst, ob wir es geschafft haben werden“ ist Theater im Futur II, in dem ein diverses Ensemble vergangenheitsvergessen eine Landschaft aus Plastikhügeln bewohnt.

Das Ayşe X Staatstheater aber ist vorerst nur ein Konstrukt, ein heterotopischer Diskursraum, in dem die Bedingungen der Möglichkeit eines nichthierarchischen, nichtrassistischen, -sexistischen und -klassistischen Theaters ausgelotet werden, das allen Communitys der Stadtgesellschaft offen steht. Benannt ist dieses Theater nach Ayşe Çetin, die als Zwölfjährige nach Deutschland kam und in Filmen wie Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ mitspielte. Weil sie nicht weiter Rollenklischees bedienen wollte, sprang sie vom Film-Karussell ab und setzte sich für LGBTQ+-Rechte und eine plurale Gesellschaft ein.

Die alte Dame ist in München zugegen, wo sich das radikal basisdemokratische Theater für vier Tage materialisiert hat. Wie auch viele andere aus dem beachtlichen „Staff“, zu dem institutionalisierte Künstler und Kuratoren wie Julia Wissert (Designierte Intendantin des Schauspiel Dortmund) oder Necati Öziri (Autor und Leiter des internationalen Forums der Berliner Festspiele) gehören sowie Angehörige aller Bühnenberufe in der freien Szene.

Die Münchner Spielstätte HochX hat sich für die Eröffnungstage in türkisfarbene Banner mit dem Schriftzug „Ayşe X“ gehüllt. Der eigene Name macht Pause für das „Theater der Zukunft“, wie es seine „Koordinatoren“ – der Regisseur und Autor Emre Akal und die Dramaturgin Antigone Akgün – nennen. Denn Intendanten soll es künftig nicht mehr geben. Auch wenn man/frau sich ein eigenes Haus durchaus vorstellen kann, mit einer unhierarchischen Architektur, wie Akgün sagt. Überhaupt hält man sich nicht groß mit Realitätszwängen auf, weiß auf der Website schon, dass „Überstunden honoriert werden“ (im Präsens), bevor überhaupt ein Budget in Sicht ist. Allerdings sei man „jederzeit bereit zu wohlwollenden Verhandlungen mit der Kulturpolitik“.

Man spricht und schreibt anders im Ayşe X, weil man auch in puncto Sprachgebrauch „Entlernung“ praktiziert und sich neue Begrifflichkeiten draufgesattelt hat. So wird an diesen vier Tagen (praktisch als Minia­tur-Abbild der Monate zuvor) gemeinsam „geforscht“ und „prozessorientiert“ gedacht, es werden Erkenntnisse über Partizipationsmodelle und konstruktive Feedback-Methoden „geteilt“ („Sharing the tools“); Diversitätsagent*innen stellen sich vor und die Münchner Regisseurin Eos Schopohl berichtet von ihren Erfahrungen als Ensembledirektorin am Schauspiel Frankfurt zur Zeit des kulturpolitisch gewünschten Mitbestimmungsmodells in den siebziger Jahren. Wobei sie sich als Fan outet, aber auch zu denken gibt, dass für viele die Offenheit endet, wenn es um den künstlerischen Prozess geht.

Doch auch wenn das Projekt Ayşe X Parallelen etwa zur derzeitigen Ausrichtung des Maxim Gorki Theaters aufweist, muss es sich noch nicht dem Realitätstest der Produktion aussetzen. Die Überlegungen zu einem Spielplan und darüber, an welche weiteren Spielstätten das Ayşe X andocken könnte, sind noch nicht sehr weit gediehen. Noch ist man in der Möglichkeitsform unterwegs – wobei es schon irritiert, dass diese Pilger aus der „strukturell bedingten Unmündigkeit“ erneut unter das Label „Staatstheater“ flüchten. Ein Aufmerksamkeitsmagnet ist dieses Label allerdings schon.

Und einen einzigen Realitätstest gibt es dann doch: Nämlich Akals Eröffnungsinszenierung. In ihr wippen sechs Verlorene in hautfarbenen Fetzen synchron in den Knien und schauen mit leeren Blicken ins Publikum oder in die Projektion eines mit uniformen Wolken bestückten Himmels. Irgendwann reißen sie die Münder auf zu einem polyphonen Schrei und laben sich ausgiebig an Plastiktüten. Und wenn sie müde sind, fallen sie um.

Intendanten soll es künftig nicht mehr geben. Auch wenn man/frau sich ein eigenes Haus gut vorstellen kann

Eine stumpfe, postapokalyptische Unschuld liegt über der Szene, die durch Gegenstände gestört wird, die das Publikum vorher durch Ankreuzen auf einer Liste ausgewählt hat. „Welcher Gegenstand wird die Welt retten?“, stand darauf. Und vom Dildo bis zur Waffe schienen alle gleich ungeeignet. Bei der Premiere hat unter anderem ein Kamm gewonnen, der wilde Langhaarperücken auf die Bühne bringt und ebenso wilden Neid. Und ein Bambi-Comic, das alle in eitle Hirsche verwandelt: „Beautiful deers, touch your skin and feel how sexy you are!“ und „Lick the Trauerweide!“, trällert Vorsängerin Mara Widmann, der Jasmina Musiæ, Melek Erenay, Željko Maroviæ, Çaðlar Yiðitoðullarý und Adi Hrustemoviæ folgen.

Die Bilder sind beeindruckend, wenn ihnen auch die Bedrohlichkeit und Schärfe von Akals Vorgängerinszenierungen fehlt. Die Message darunter scheint so schlicht, dass man sich schon wieder fragt, ob diese Schlichtheit auch ein Marker für flache Hierarchien ist.

Den eindrücklichsten dieser Marker aber setzte Erkin Akal. Emres 73-jähriger Vater, der in all seinen Inszenierungen mitspielt, aber zum ersten Mal spricht, steht zu Beginn vor der Bühne: Er habe seinem Sohn gesagt, diesmal müsse es sein, sagt er mit listigem kleinen Lächeln unterm Schnauzer und „teilt“ mit uns seine Träume von einer gerechten und friedlichen Welt. Schlicht ist das auch, aber ehrlich, warm und schön.

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