„Das hätte auch ich sein können“

Ein 18-jähriger stirbt nach Polizeigewalt in Kolumbien. Er wird zum Symbol der Protestbewegung des Landes

Von Bernd Pickert

Seit Samstag hatten die Mediziner im Hospital San Ignacio in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá um sein Leben gekämpft – in der Nacht zum Dienstag ist der 18-jährige Dilan Cruz gestorben. Todesursache: Die Verletzungen, die er durch eine Polizeiwaffe am Rande von Protesten am Samstag erlitten hatte.

Seither war Dilan zum Symbol des jugendlichen und studentischen Teils jener Proteste geworden, die am Donnerstag vergangener Woche mit einem Generalstreik und Demonstrationen im ganzen Land begonnen und seither nicht wieder aufgehört hatten. Jeden Abend gehen Tausende Kolumbianer*innen auf die Straße, schlagen laut auf Kochtöpfe und fordern eine grundsätzliche Änderung der Politik und ein Ende der Gewalt. Nicht nur der Polizeigewalt, sondern auch jener Attentate, bei denen seit Verabschiedung des Friedensvertrages zwischen Farc-Guerilla und Regierung 2016 bislang über 800 soziale Akti­vist*innen, Men­schen­rechts­ver­tei­di­ger*innen und Ex-Gueril­leros umgebracht worden sind.

#todos­somos­dilan – wir alle sind Dilan – ging in Kolumbien viral auf Twitter. Viele Studierende veröffentlichten Tweets mit ihrem Namen, ihrem Studiengang und dem Schlusssatz: „Auch ich hätte das gewesen sein können.“

Auf Videos vom Samstag ist zu sehen, wie die Esmad, die Antiaufstandseinheit der kolumbianischen Polizei, mit Tränengas gegen Demonstrierende vorgeht. Dilan Cruz ist zu sehen, wie er eine Tränengasgranate zurückwirft und wegrennt. Mitten im Lauf bricht er zusammen, am Kopf getroffen von einem Gummigeschoss der Polizei. Auf weiteren Videos sind Demo-Sanitäter zu sehen, die ihm in einer Blutlache liegend Erste Hilfe leisten.

Auch Kolumbiens rechtskonservativer Präsident Iván Duque reagierte auf die Todesnachricht: „Unser Beileid gilt seiner Mutter, seinem Großvater und seinen zwei Schwestern“, schrieb Duque auf Twitter. Die Polizei teilte mit, der Schütze sei ­vorläufig aus dem Dienst entfernt.

Zuvor hatte der Präsident für Dienstag nach Tagen der Proteste, im Verlaufe derer über Bogotá zum ersten Mal seit 1977 eine nächtliche Ausgangssperre verhängt worden war, zu einem nationalen Dialog aufgerufen. Bis zum 15. März nächsten Jahres wolle er mit allen gesellschaftlichen Gruppen sprechen, erklärte Duque, und ver­öffentlichte sogar schon Themenblöcke und Zeitpläne Das stieß auf Zurück­weisung: Es könne doch nicht sein, dass Tausende jeden Tag auf der Straße seien, ohne dass sie in die Entscheidung über eine Form des Dialogs einbezogen würden.

Am Wochenende hatte sich Duque zunächst mit 24 der 32 Bür­ger­mei­ster*in­nen größerer Städte zusammengesetzt – auch das stieß auf Kritik. Claudia López, seit den Kommunalwahlen Ende Oktober designierte Bürgermeisterin von Bogotá, sagte: „Niemand von uns repräsentiert die Bürger auf der Straße. Sie haben ihre eigenen Sprecher, Organisationen, Zeitpläne und Forderungen.“ Insbesondere die jungen Leute warteten darauf, dass sie selbst eingeladen würden.

Dilan Cruz, der aus einem ärmeren Stadtteil von Bogotá kam, hatte erst vor wenigen Wochen Abitur gemacht. Um studieren zu können, musste er sich auf die Suche nach einem Kredit machen – und wohl das, so sagen Freunde, brachte ihn zu den Protesten gegen schlechte und teure Bildung. Am Montag, als er noch auf der Intensivstation zwischen Leben und Tod schwebte, hätte er an seiner Schule sein Abiturzeugnis entgegennehmen sollen. Für ihn nahm seine Schwester an der Feier teil. Sie und ihre Familie hofften, dass Dilans Schicksal ein Fanal gegen die Gewalt sein möge, sagte sie.