: Mit Regenschirm und Molli
Die eingekesselten Studenten der besetzten Universität in Hongkong erfahren eine große Solidarität
Aus Hongkong Ralf Ruckus
In den späten Morgenstunden strömen viele Tausende Hongkonger in die Stadtteile Tsim Sha Tsui, Jordan, Yau Ma Tei und Hung Hom. Dorthin, wo die besetzte und von der Polizei abgeriegelte Polytechnische Universität liegt. Die Studierendengewerkschaft gibt bekannt, dass sich dort am Montag weiterhin über 500 Protestierende aufhalten. Etliche ihrer Ausbruchsversuche sind gescheitert. Die Bewegung ruft dazu auf, den Eingeschlossenen zur Hilfe zu kommen. Und die kommt.
In Hung Hom verstärken DemonstrantInnen Barrikaden, mit Bumbusstäben von Baugerüsten oder Müllcontainern. Auch verteilen sie Pflastersteine auf der Straße, um ein schnelles Vordringen der Polizeifahrzeuge zu verhindern. Viele SchülerInnen und StudentInnen sind da, die den Kern des „schwarzen Blocks“ bilden, aber auch Ältere, Männer und Frauen, die meisten tragen Gesichtsmasken.
In einer Seitenstraße bilden Hunderte UnterstützerInnen eine Nachschubkette, die Kabelbinder für den Barrikadenbau und Regenschirme gegen den Beschuss mit Tränengas und Gummigeschossen an die Frontlinie weiterreicht. An der Chatham Road schießt eine Spezialeinheit der Polizei, die „Raptors“, mit Gummigeschossen, andere Polizisten folgen mit Tränengasgranaten, die meisten zielen auf Kopfhöhe.
Ein Mann aus der südasiatischen Community fragt mich, ob ich so etwas schon einmal erlebt hätte. Ja, in den 1980er und 1990ern bei den Häuserkämpfen in Westeuropa, erkläre ich, aber da wurde der „schwarze Block“ von Linken getragen und unterstützt, hier kämpft eine viel größere Bewegung gegen eine autoritäre Regierung. Er nickt. Dann zeigt er auf eine der jungen Frauen, die gerade an einer Barrikade baut, und sagt, er könne nicht verstehen, wie die Polizei so junge Leute angreifen könne.
Eine junge Aktivistin erzählt mir, dass ihre Mutter im Krankenhaus arbeitet und mehrfach verletzte Polizisten eingeliefert wurden, die in ihrer Freizeit von Leuten aus der Protestbewegung aufgespürt und zusammengeschlagen worden sein sollen. Die Mutter und ein Großteil ihrer KollegInnen stehen hinter der Bewegung. Sie finden, die Polizisten hätten das verdient. Hier wird die Frage der Gewalt gegen den Staat offensichtlich anders diskutiert.
Ich ziehe wieder los und komme durch bis nach Jordan, wo Tausende an der Einkaufsstraße Nathan Road stehen und sitzen, viele erschöpft von den Auseinandersetzungen. In der Straßenmitte werden kistenweise Molotow-Cocktails vorbereitet, die wichtigste Waffe gegen die Angriffe der Polizei. Auf mehr als einem Kilometer ist hier die Straße mit Steinen übersät und fast jede Kreuzung verbarrikadiert.
Wie überall, wo es zu Straßenschlachten kommt, sind Dutzende JournalistInnen in gelben Westen vor Ort. Manche halten Kameras hoch, mit denen sie die Auseinandersetzungen live ins Internet oder Kabelfernsehen übertragen. Eine Bekannte hat mir erzählt, dass viele ältere UnterstützerInnen der Bewegung aus Angst nicht zu den Demos gehen. Durch die Live-Übertragungen bekommen sie mit, was ihre Kinder vor Ort erleben.
Ich ziehe weiter nach You Ma Tei, wo die Polizei plötzlich von vorne mit Tränengas angreift. Ich laufe in eine Seitenstraße, aber auch hier rücken Polizeieinheiten vor. Die Menge zieht sich etwas zurück, aber als die Polizei stehenbleibt, kommt sie zurück – ein gängiges Muster der hiesigen Straßenschlachten. Die meist jungen Leute der ersten Reihe haben Gasmasken und halten aufgespannte Regenschirme, um sich vor den Gummigeschossen zu schützen. Sie rücken langsam vor, und aus der zweiten Reihe werden dann Molotow-Cocktails in Richtung der Polizeilinien geworfen, zerschellen jedoch meist weit vor diesen. Ich mache einen Umweg und sehe das erste Mal am heutigen Tag einen der Wasserwerfer und ein gepanzertes Fahrzeug. Sie werden später an der Nathan Road eingesetzt.
Die Straßenschlacht geht noch bis spät in die Nacht weiter. Als ich mich schließlich auf den Heimweg mache, hallen die Sounds des Aufstands von Hongkong in meinen Ohren wider: das Zerschlagen von Pflastersteinen, das Zersplittern der Mollis, der Abschussknall der Tränengasgranaten und Gummigeschosse, die Polizeisirenen – und die wütenden Schreie der Protestierenden.
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