Nach Sozialprotesten im Libanon: Nur ein Meilenstein

Nach dem Rücktritt der Regierung stellt sich die Frage, wie es mit dem Land weitergeht. Auch die schiitische Hisbollah fürchtet um ihren Einfluss.

Eine Gruppe von Demonstranten in einem Protestcamp, ein Demonstrant schwenkt die libanesische Flagge.

Kurz vor Premier Hariris Rücktritt: Hisbollah-Anhänger haben Zelte der Protestierenden zerstört Foto: dpa

KAIRO taz | Der Rücktritt des libanesischen Premiers Saad Hariri hat den einzigen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise geöffnet – aber niemand weiß, was sich dahinter verbirgt. Fast zwei Wochen lang haben hunderttausende Libanesen im ganzen Land demonstriert und den Rücktritt der Regierung gefordert.

Nach der Rücktritts-Ankündigung feierten die Demonstranten im Zentrum Beiruts. Hariri selbst bezeichnete seinen Schritt als eine „Schockbehandlung, um aus dieser Krise herauszukommen“. Was aber geschieht, wenn der libanesische Patient nach dem Schock wieder zu sich kommt, ist schwer zu prognostizieren.

Die Demonstranten fordern nicht nur den Rückzug der gesamten politischen Klasse des Landes, die sie der Korruption und der Misswirtschaft anklagen. Sie verlangen ein Ende des kompletten politischen Systems, in dem die Religionszugehörigkeit im Mittelpunkt der Politik steht und wenige Clans auf religiöser Basis den Staat repräsentieren und in ihre eigene Tasche wirtschaften.

Der Rücktritt Hariris ist für sie nur ein Meilenstein, sie bleiben vorerst weiter auf der Straße. Ihr größtes Problem: Sie sind nicht organisiert und können daher auch nicht geschlossen über einen Ausweg aus der Krise verhandeln.

Auf die lange Bank geschoben

Zumindest einen Spalt weit ist die Tür aufgegangen. Laut einer Erklärung des Präsidenten Michel Aoun am Mittwoch, hat dieser den Rücktritt Hariris angenommen. Allerdings hat er das Kabinett aufgefordert, vorerst kommissarisch als Übergangsregierung weiterzumachen, bis eine neue Regierung gefunden wird. Ein Zeitrahmen dafür wurde nicht festgesetzt.

De facto ist die Erneuerung des politischen Systems erst einmal auf die lange Bank geschoben. Der Status quo wurde vielmehr verlängert. Das Militär hat nun begonnen, die Straßenblockaden der Demonstranten aufzulösen, um im Alltag zumindest ein wenig das Gefühl von Normalität zurückzubringen. Diese vorläufige Lösung stellt allerdings für den Libanon bestenfalls eine Atempause dar. Es ist unwahrscheinlich, dass diese kommissarische Regierung die notwendigen grundsätzlichen Reformen einleitet und die Proteste damit zum Schweigen bringen kann.

Keiner weiß also genau, wie lang die Bank ist, auf die die Zukunft des Libanon geschoben wird. Möglich ist auch, dass dann in einem zweiten Schritt ein anderes Szenario in Kraft treten wird. Bereits jetzt wird im Libanon als Weg aus der Krise die Schaffung einer Regierung aus Technokraten diskutiert. Die politischen Strömungen des Landes wären hier nur durch drei zusätzliche Minister vertreten, die keine Geschäftsbereiche bekommen.

Diese Regierung hätte vornehmlich drei Aufgaben: die überfälligen wirtschaftlichen Reformen einzuleiten, einen Untersuchungsausschuss zur Bekämpfung der Korruption ins Leben zu rufen und Neuwahlen vorzubereiten.

Angst vor Polarisierung des Landes

Diese Möglichkeiten sind vor allem dazu gedacht, ein anderes, verheerendes Szenario zu verhindern. Denn würde sich all das als Sackgasse erweisen und würden die Proteste weitergehen, könnten die schiitsche Amal-Bewegung, die Hisbollah und die Unterstützer des Präsidenten Michel Aoun versuchen, im Alleingang eine Regierung zu stellen und gegen die Demonstranten vorzugehen.

Entscheidend wird sein, für welche Szenarien sich die militärisch und politisch stärkste Kraft des Landes, die Hisbollah, entscheidet

Das wäre das Ende der libanesischen Einheitsregierung und würde unmittelbar zu einer enormen Polarisierung des Landes führen, das schon einmal einen blutigen Bürgerkrieg erlebt hat.

Entscheidend wird am Ende sein, für welche Szenarien sich die militärisch und politisch stärkste Kraft des Landes, die Hisbollah, entscheidet. Deren Chef Hassan Nasrallah hatte bisher einen Rücktritt der Regierung vehement abgelehnt, hat aber, wie der Rücktritt Hariris beweist, nun doch klein beigegeben.

Die Hisbollah scheint sich mit der Atempause der Übergangsregierung zufriedenzugeben, in der sie und ihre Verbündeten weiter sitzen. Und sie könnte möglicherweise auch eine Technokraten-Regierung akzeptieren. Dabei hat die Hisbollah eine zentrale Bedingung für jede neue Regierung in Beirut: Die Entwaffnung der Schiiten-Organisation auf das politische Tablett zu bringen, ist eine rote Linie.

Das Dilemma der Hisbollah

Obwohl die Hisbollah sicherlich die stärkste Kraft im Land ist und jede Protestbewegung über Nacht beenden könnte, indem sie ihr Fußvolk auf die Straße schickt, steckt sie in einem Dilemma. Denn wirklich gefährlich sind für sie vor allem der Dissens und die Proteste der letzten zwei Wochen in den Hisbollah-Hochburgen im Süden des Landes und in der Bekaa-Ebene.

Die Hisbollah sieht sich als Heimat der schiitischen Mittellosen, genau jenen also, die jetzt verärgert gegen das gesamte politische System im Libanon auf die Straße gehen. Wenn der Führungsanspruch der Hisbollah innerhalb der schiitischen Gemeinschaft angezweifelt wird, würde es für die Organisation und ihre iranischen Unterstützer ums Eingemachte gehen.

Die Hisbollah hat genau aus diesem Grund kein Interesse, dass sich die Protestbewegung zeitlich in die Länge zieht. Wenn sie sich in Gefahr sieht, wird sie versuchen, die Demonstranten als ausländische Verschwörung darzustellen und mit Gewalt gegen sie vorgehen. Das wäre für den Libanon das schwärzeste aller Szenarien.

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