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„Er sorgte dafür, dass niemand dieser Hölle entkommen konnte“

In Hamburg hat der Prozess gegen einen ehemaligen SS-Mann begonnen. Vorwurf: Beihilfe zum Mord in tausenden Fällen. Der Mann soll von 1944 bis 1945 als Wachmann im KZ Stutthof gearbeitet haben

5.230 Menschen sind während der Dienstzeit von Bruno D. wohl im Lager ermordet worden

Aus Hamburg Klaus Hillenbrand

Bruno D. kommt am Donnerstag als letzter in den Verhandlungssaal 300. Der 93 Jahre alte Angeklagte wird im Rollstuhl in den Saal geschoben und hält sich, solange die Fotografen anwesend sind, einen roten Aktendeckel vor sein Gesicht. Erst danach erkennt man sein volles Gesicht, das Schnurrbärtchen und die weißen Haare.

Bruno D. Ist vor dem Hamburger Landgericht der Beihilfe zum Mord in mindestens 5.230 Fällen angeklagt, begangen im KZ Stutthof in den Jahren seines Einsatzes als SS-Wachmann vom August 1944 bis zum April 1945. Das ist nun 75 Jahre her. Weil D. damals noch nicht volljährig war, findet das Verfahren nach dem Jugendstrafrecht statt. Deshalb ist es nicht öffentlich, nur akkreditierte Journalisten haben Zutritt. Das hohe Alter des Angeklagten bedingt, so sagt es die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring, weitere Besonderheiten. D. gilt als nur eingeschränkt verhandlungsfähig, deshalb ist das Verfahren auf täglich maximal zwei Stunden beschränkt. Drei Ärzte wohnen dem Prozess bei. Sollte Bruno D. während des Prozesses kollabieren, so habe des Publikum auf seinen Sitzen zu verbleiben, bis der Angeklagte notversorgt und aus dem Gericht gebracht sei, sagt die Richterin. Die Hamburger Justiz möchte so vermeiden, dass unwürdige Fotos in die Öffentlichkeit geraten.

Am ersten Verhandlungstag sind diese Vorsichtsmaßnahmen unnötig. D. gibt mit fester Stimme seine Personalien an, bevor Staatsanwalt Lars Mahnke die Anklage verliest. Danach habe der Angeklagte „vorsätzlich anderen zur Begehung heimtückischer und grausamer Morde Hilfe geleistet“. D., sagt Mahnke, sei als SS-Wachmann für die Bewachung des Lagers zuständig gewesen, darunter auf den Türmen, die das KZ-Gelände umgaben. Dann geht Mahnke auf die unterschiedlichen Mordmethoden in Stutthof ein. Er spricht von den Erschießungen durch Genickschüsse in einem Nebenraum des Krematoriums – mindestens 30 Tote in der Dienstzeit des Angeklagten. Er geht auf die Vergasungen mit Zyklon B ein, die zuerst in einer Kammer und später im abgedichteten Waggon einer Schmalspurbahn durchgeführt wurden – mindestens 200 Opfer. Und der Staatsanwalt beschreibt das, was er im strengen Juristendeutsch „Tötung durch Herbeiführung und Aufrechterhaltung lebensfeindlicher Bedingungen“ nennt. Das waren die „planmäßige Nötigung zur Schwerstarbeit völlig entkräfteter Häftlinge“, die „systematische Verweigerung von ausreichender Ernährung“ und die „Verweigerung hygienischer Minimalbedingungen und jeglicher medizinischen Hilfe“. Im Block 29 und 30 des „Judenlagers“, dem sogenannten Todesblock, starben die weiblichen Gefangenen, ohne dass sie auch nur einen Schluck Wasser erhielten. Eine der Todesursachen sei eine im November 1944 ausgebrochene Fleckfieberepidemie gewesen, die bis zur Auflösung des KZ angehalten habe. Insgesamt seien währen der Dienstzeit von Bruno D. mindestens 5.000 Menschen so „auf qualvolle Weise ums Leben gekommen“, sagt der Ankläger.

Zu all dem, erklärt sein Verteidiger Stefan Waterkamp, werde der Angeklagte an diesem Donnerstag keine Stellung nehmen. Zu einem späteren Zeitpunkt aber sei er zu Aussagen bereit, so wie er auch schon in seinen Vernehmungen umfangreich ausgesagt hatte, was die Anklage als einen Teilgeständnis wertet.

Bruno D. steht als Angeklagter vor Gericht, obwohl Tausende andere Wachmänner der strafrechtlichen Verurteilung in der Bundesrepublik entgangen sind, darauf macht Waterkamp aufmerksam. Die Justiz habe damals versagt. Jetzt müsste sich sein Mandant vor Gericht verantworten, weil sich die Rechtsauffassung geändert habe. Er hebt hervor, dass Bruno D. schon 1975 und 1982 bei Zeugenvernehmungen ausgesagt habe, doch „für den einfachen Wachmann hat sich jahrelang niemand interessiert“. Bedeutet das, dass es ungerecht wäre, jetzt doch zu handeln, so wie es der Verteidiger insinuiert? Da widerspricht der Anwalt der Nebenklage, Cornelius Nestler. Und er zitiert seine Mandantin, Judith Meisel, die als Kind das KZ Stutthof überlebte: Das letzte Mal, als ich meine Mutter sah, standen wir vor der Gaskammer. Der Angeklagte sorgte dafür, dass niemand dieser Hölle entkommen konnte.“ Das Strafverfahren gegen Bruno D. sei deshalb eine „späte Gerechtigkeit“.

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