piwik no script img

Jagdszenen aus dem Nordosten

Max Gleschinskis Thriller „Kahlschlag“ ist ein seltenes Exemplar: entstanden in Mecklenburg-Vorpommern – und trotz niedrigem Budget gelungenes Genrekino. Zu sehen ist er jetzt beim Unabhängigen Filmfest Osnabrück

Von Wilfried Hippen

Eben noch haben sie gemütlich auf ihren Campingstühlen gesessen, am Waldsee, beim Angeln – so wie sie es seit ihrer beider Kindheit gewohnt waren. Nun aber schwimmt der eine der beiden alten Freunde durch den See, verzweifelt und um sein Leben fürchtend. Und der andere wirft die Angel aus, um ihn einzufangen. Das ist zugleich spannend und so überzogen, dass es ein wenig lächerlich wirkt. Ja, man würde darüber lachen, wenn man nicht gleichzeitig die Luft anhalten müsste.

Regisseur Max Gleschinski beweist mit dieser Sequenz, dass er verstanden hat, wie Genrekino funktioniert, also jene Filme, denen sich Vorsilben wie Action-, Thriller-, Horror- oder Sci-Fi- verpassen lassen. Es ist wohl kein Zufall, dass Gleschinski nicht auf einer Filmhochschule studiert, sondern stattdessen „so viele Filme wie nur möglich“ gesehen hat: „Das Kino ist meine Hochschule“, sagt der 26-Jährige. Eine PR-Abteilung mit der nötigen Unverfrorenheit hätte aus dem Debütanten sicher längst einen deutschen Quentin Tarantino gemacht: auch so ein Autodidakt ohne Berührungsängste mit Direct-to-Video-Stoff.

Sein Langfilmdebüt „Kahlschlag“ ist jetzt in Osnabrück zu sehen (Freitag, 22.30 Uhr, Filmpassage), wo am Mittwoch das Unabhängige Filmfest eröffnet wurde. „Kahlschlag“ ist ein Wald- und Wiesenfilm. Was sich vielleicht anbietet, wenn man im dünn besiedelten Mecklenburg-Vorpommern dreht, und das auch noch mit wenig Geld: Ein großer Teil des Films entstand also in der Landschaft. Allerdings muss ein Regisseur auch die Gegend in Szene setzen, und Gleschinski gelingt das. In seinem Film sieht man nie nur Bäume, Moos und Sonnenlicht, das durch die Zweige fällt, sondern diese Bilder sind stets mit Emotionen aufgeladen.

Und davon haben seine Pro­tagonisten reichlich: Eric (Bernhard Conrad) stürzt in tiefe Depression, weil sich seine große Liebe Frenni (Maike Johanna Reuter) von ihm abwendet – ausgerechnet zugunsten seines besten Freundes Martin (Florian Bartholomäi). Erics Bruder Basti (ebenfalls Bernhard Conrad)wirkt wie ein auf der dunklen Seite lebender Doppelgänger, und als er erschlagen in seiner Wohnung aufgefunden wird, setzt dies eine Kette von Ereignissen in Gang, so unausweichlich wie in der klassischen Tragödie. Dieser Vergleich kommt nicht von ungefähr, denn für die Geschichte hat Gleschinski sich bei der römischen Mythologie bedient, etwa der Geschichte von Romulus und Remus, die im Film auch selbst auftritt: als Buch, als Bilderbuch, um ganz genau zu sein.

Verblüffend kann man auch die weiteren kulturellen Bezüge finden – zumal bei so einem jungen Regissuer. Ist der Genrefilm sonst ja gerne mit Zitaten aus der Popkultur gespickt, werden hier Gedichte von Heinrich Heine rezitiert. Und als Fren­ni ein zeitgenössisches Porträt ebendieses Dichters vorliest, liefert sie damit eine pointierte Charakterzeichnung dessen, mit dem sie gerade im Bett liegt.

Gleschinski erzählt also – für einen Genrefilm – ungewöhnlich und kunstvoll. Er vermeidet auch das von manchem wohl erwartete Gemetzel im letzten Akt und bringt den Film lieber psychologisch glaubwürdig und stimmig zu Ende. (Dass er dann doch mogelt und zugunsten eines schönen Schlussbilds die Plausibilität aus dem Fenster wirft, sei ihm verziehen.)

Wald und Wiesen, aber auch ein etwas heruntergekommenes Wohnhaus, eine nächtliche Dorffeier, die Unibibliothek in Rostock: Das alles ist hier nicht nur Kulisse, sondern vermittelt auch viel mecklenburg-vorpommersches Lebensgefühl. Die Charaktere reden viel vom Fortziehen oder Hierbleiben, sie leben in ärmlichen Verhältnissen, und wenn Frenni in die Stadt geht zum Studieren, ist dies schon der erste Schritt Landflucht. Die einzigen Touristen sind sächselnde Karikaturen, die als „comic relief“ eingesetzt werden – und mit denen ein Filmemacher aus Bayern so sicher nicht durchgekommen wäre.

Subtiler ist dagegen die Filmmusik von Axel Meier. Der lebt nicht im Nordosten, sondern in Berlin, hat aber selbst in Rostock studiert. Weil der Film im Wald spiele, „soll er auch nach Holz klingen“, hat der Komponist seinem Regisseur erklärt: So besteht der Soundtrack nun durchweg aus den Klängen von Perkussionsinstrumenten.

Mecklenburg-Vorpommern war lange filmisches Niemandsland. Es gibt zwar immer mal wieder ein paar Drehtage fürs Kino, und allerlei Fernsehprogramm entsteht hier. Aber ein ganzer, langer Film? „Kahlschlag“ ist auch in dieser Hinsicht ein Debüt. Max Gleschinski wiederum hat bisher eine Handvoll Kurzfilme gedreht, auch Musikvideos und Werbung. Sein Spielfilmdebüt entstand innerhalb von fünf Wochen und mit einem winzigen Budget – „Benzingeld, Catering und Reisekosten“, sagt er selbst –, dass vom Team kaum jemand bezahlt wurde, ist da eigentlich keine Überraschung.

Seine Uraufführung erlebte „Kahlschlag“ auf den Hofer Filmtagen. Dort zeichnete ihn die Jury prompt als besten Nachwuchsfilm aus: mit dem „Förderpreis Neues Deutsches Kino“. Seitdem lief er auf einigen lokalen Festivals, jetzt beginnt eine Runde auch bei internationalen, in Schweden und Italien lief er schon, dieser Tage folgt Kingston bei London.

In Osnabrück nun stellt ihn Gleschinski persönlich vor – im Rahmen der Programmschiene „Filmfest Extrem“. So viel Genre muss sein.

34. Unabhängiges Filmfest Osnabrück: bis So, 20. Oktober. Programm und Infos: https://filmfest-osnabrueck.de

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen