Eine Umarmung nach 17 Jahren

In einem Berliner Hotel hat die türkische Opposition über einen neuen Gesellschaftsvertrag diskutiert. Neben kurdischen und laizistischen Vertretern nahm auch ein islamisch-konservativer Politiker an der Tagung teil

Zukunft gestalten statt Klage über den Ist-Zustand Foto: Ulaş Yunus Tosuny

Von Hülya Gürler

Beflügelt von Schulterschlüssen mehrerer Oppositionsparteien bei den Istanbuler Wahlen Ende Juni haben sich am Wochenende politisch Aktive, Ver­treter*innen verschiedener Organisationen und Parteien aus ganz Europa zu einer Konferenz in Berlin zusammengefunden. Im Neuköllner Mercure Hotel diskutierten rund 200 Teilnehmende zwei Tage lang einen neuen „Gesellschaftsvertrag für eine demokratische Türkei“, wie es im Programm heißt.

Den Aufruf zur Konferenz unterzeichneten 54 Personen – darunter Exillierte wie der Filmemacher Mustafa Altıoklar, der armenisch-türkische Publizist und Comedien Hayko Bagdat und die in Frankfurt lehrende Soziologin Latife Akyüz, Mitunterzeichnerin der Friedenspetition. Mit der Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut (Die Linke), dem ehemaligen Abgeordneten Memet Kılıç (Grüne) und Yüksel Koç vom europäischen Dachverband kurdischer Vereine KCDK-E sind aber auch die hiesige Politik und Zivilgesellschaft vertreten.

Für Rückbindung an das aktuelle Geschehen in der Türkei sorgte ein Panel mit den türkischen Abgeordneten Ali Şeker von der Republikanischen Volkspartei CHP und Cihangir İslam von der muslimisch-konservativen Saadet-Partei. Sie diskutierten mit dem kurdischen Abgeordneten Mithat Sancar von der Partei der Demokratie der Völker (HDP), dem amtierenden stellvertretenden Parlamentspräsidenten.

Eine neue Sprache, auch für Regierungsanhänger
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Politische Vielfalt über offensichtliche weltanschauliche Grenzen hinweg war Programm des Kongresses. „Eigentlich wollen wir uns schon seit 17 Jahren treffen“, sagte der Journalist Can Dündar beim Eröffnungspodium. „Nun kommen wir zu einem kritischen Zeitpunkt zusammen, an dem die Machthaber sich im freien Fall und die gesellschaftliche Opposition im Kommen befindet.“ Dündar forderte ein neues Selbstvertrauen der Exilierten und der Opposition: „Statt zurückzublicken und zu lamentieren, sollten wir uns Gedanken darüber machen, wie wir eine neue Türkei aufbauen können.“ Diese Haltung zog sich wie eine roter Faden durch die Tagung, die als Auftakt für weitere Zusammenkünfte gedacht war.

„Wir müssen eine alle – auch Wähler der Regierungsparteien – einladende Sprache benutzen“, sagte İslam, der vor mehr als zwei Jahren von seiner medizinischen Lehrtätigkeit suspendiert wurde, weil er Unterzeichner des Friedensappells unterstützt hatte. Gäbe es die aktuelle Bedrohung breiter Gesellschaftsschichten durch das Erdoğan-Regime nicht, so wäre fraglich, ob beispielsweise Vertreter alevitischer Organisationen mit der sunnitisch geprägten Saadet-Partei, der viele Aleviten misstrauen, ein Bündnis eingehen würden.

Die Rücksichtnahme reichte bis an den Rand der Perspektivverschiebung, etwa wenn der Saadet-Abgeordnete İslam der Exilopposition erklärte, wer auch die bisherigen AKP-Wähler*innen ansprechen wolle, dürfe Erdoğan nicht als Diktator bezeichnen.

„Ich glaube nicht, dass wir mit der Saadet-Partei in manchen Fragen je einer Meinung sein werden. Heute aber geht es um die Demokratisierung des Landes. Darüber, glaube ich, werden wir gemeinsame Nenner finden“, sagte Mehmet Ali Cankaya, Vertreter der Alevitischen Union in Europa, der taz gazete. Tatsächlich war die Atmosphäre trotz unterschiedlicher Sichtweisen von einem Wunsch nach Versöhnung und gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt.

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Die für Spott sorgenden Schmutzkampagnen regierungsnaher türkischer Medien taten ein Übriges: Im Vorfeld und während der Konferenz rückten sie Teilnehmende in die Nähe der PKK und der ebenfalls als Terrororganisation eingestuften Gülen-Bewegung. So schweißten sie sie unfreiwillig noch mehr zusammen.

Das Gemeinsame: die Betroffenheit

Über Parteigrenzen hinweg und trotz ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen ethnischen, religiösen und weltanschaulichen Gruppen eint die Teilnehmer der Konferenz neben der Herkunft aus der Türkei die Tatsache, dass sie direkt oder indirekt Repressionen des Erdoğan-Regimes zu spüren bekommen haben. Sie wünschen sich Veränderung, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Land.

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Für Überraschung sorgte am Sonntagnachmittag die kurzfristige Teilnahme der Vertreterin der İYİ-Partei in Deutschland, Mahican Balcı. Die İYİ-Partei ist eine na­tio­nalistisch-laizistische Partei, die aus einer Abspaltung der rechtsextremen MHP hervorgegangen ist. Inhaltlich war in den Arbeitsgruppen am Samstagnachmittag aber nicht nur für die großen Themen Frieden, Armut und Medien Platz, sondern auch für linksoppositionelle Themen wie LGBTIQ, Frauenpolitik, Ökologie und Religions­politik.

Kontrovers diskutiert wurde die Forderung nach einer „Rehabilitation der Türkei“. In der Auslegung des Filmemachers Altıoklar geht es dabei um die Wiederherstellung der Gewaltenteilung. Nicht umstritten war der Wunsch nach Geschlechtergerechtigkeit, Teilhabe, Pluralismus und Frieden im Land.

„Die Kurdenfrage ist das Hauptproblem der Türkei“, sagte der Journalist Ergün Babahan auf dem Eröffnungspodium. Am Ende der Konferenz stand eine gemeinsame Erklärung, in der Demokratie statt Autoritarismus und Umarmung anstelle von Spaltung gefordert werden.