: Jede Wette
Wettbüros finden sich überall in Berlin – und sie dominieren manchen Straßenzug. Seit Jahren können sie sich wegen einer ungeklärten Gesetzeslage frei verbreiten. Während die Anbieter profitieren, wetten sich viele Nutzer in die Krise
Von Volkan Ağar
Enes hatte die Kontrolle irgendwann endgültig verloren. Glücksspiel, Drogen, Schulden. Noch mehr Glücksspiel, noch mehr Drogen, noch mehr Schulden.
Dann hat er sich geoutet, zuerst gegenüber seiner Tante, und im Berliner Westen eine Therapie begonnen, mit anderen Spielsüchtigen, aber auch Drogensüchtigen. 14 Wochen, stationär. Ganz geschafft hat er es nach der ersten Therapie noch nicht. Drei Wochen konnte er dem Suchtdruck standhalten. Dann verlor er sich für zwei Monate nochmals in Drogen und Glücksspiel. Seine Freundin trennte sich von ihm. Er ging noch mal in die Therapie, diesmal für acht Wochen. Das war vor ungefähr zwei Jahren. Glücksspiel war schon lange ein Teil seines Lebens. Die Phase, in der Enes so richtig am Limit gelebt hat, dauerte anderthalb Jahre.
Heute ist Enes 28 Jahre alt. Er steht kurz davor, endlich sein Bachelorstudium in Wirtschaftspsychologie abzuschließen. In seiner Masterarbeit analysiert er Autowerbung. Enes ist ein durchtrainierter junger Mann, der kurze schwarze Locken trägt und Witze macht, selbst wenn er über Trauriges spricht. Die Scham endlich abzulegen und einfach darüber zu sprechen sei der erste Schritt aus der Sucht gewesen, sagt er. Auch im Gespräch mit der taz antwortet er auf alle Fragen, auch sehr persönliche. Manchmal senkt er aber seinen Blick, manchmal kommt er ins Stocken, manchmal entschuldigt er sich, weil er denkt, er schweife ab. Enes möchte anonym bleiben, er heißt eigentlich anders.
Enes erinnert sich gut daran, wie alles angefangen hat: mit Sportwetten. Wenn er als Dreizehnjähriger seine Onkel besuchte, haben die ihn mitgenommen in die Wettbüros. Mit ihnen dort Zeit zu verbringen sei irgendwann normal gewesen. Wenn er daran zurückdenkt, wie alles angefangen hat und wie schwer es war, später über seine Sucht zu sprechen, dann sagt Enes: „Ich habe es verheimlicht, obwohl meine Familie mich so sozialisiert hat.“
Das Spiel gehörte in seiner Familie irgendwie zum Alltag. Und Fußball war bei allen beliebt. Im Freundeskreis gab es dann später immer jemanden, der nach Schulschluss gesagt hat: „Komm, lass mal einen 2-Euro-Schein machen.“ Einen 2-Euro-Schein machen, das bedeutet, mit einem Einsatz von 2 Euro auf den Ausgang einer Kombination von Sportereignissen zu tippen. Die klassischen Optionen: 1, das bedeutet die Heimmannschaft gewinnt; 2 bedeutet dasselbe für die Gäste, und X bedeutet unentschieden. Der Einsatz wird dann mit den Quoten der getätigten Tipps multipliziert. Daraus ergibt sich der potenzielle Gewinn. Mittlerweile kann man in den Wettbüros auch darauf tippen, welcher Spieler ein Tor schießt oder wer den nächsten Eckball bekommt.
Enes’ Familie war extra nach Steglitz gezogen, damit er in einem guten Umfeld aufwächst. Zur Schule gegangen ist er in Zehlendorf. Aber Wettbüros gibt es in Berlin überall. Sie prägen das Stadtbild mehr denn je, sie dominieren sogar manche Straßenzüge. Laut einer Antwort des Senats auf eine Anfrage der SPD-Abgeordneten Clara West und Daniel Buchholz gab es im Dezember 2013 noch 291 sogenannte Wettvermittlungsstellen, im April 2019 waren es schon 409. Neukölln hat die meisten registrierten Lokale von allen Bezirken: 80. Es folgen Friedrichshain-Kreuzberg mit 77 und Mitte mit 73 Wettbüros. Zu besonders belasteten Straßenzügen, also solchen mit mehr als fünf Wettbüros, gehören die Karl-Marx-Straße, die Sonnenallee und die Hermannstraße.
Von außen sind die Läden erkennbar an den zugeklebten Schaufenstern – mit symbolischen Darstellungen von Sportereignissen oder prominenten Werbegesichtern, etwa Oliver Kahn, der für den Anbieter Tipico wirbt. Kahn soll Fußballfans anziehen, die zugeklebten Fenster Diskretion vermitteln. Im Inneren der Wettbüros gibt es eine ganz eigene Welt.
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