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Antifeministisches Theater

Das Amtsgericht in Lübeck hat den ehemaligen Leiter des „Weißen Rings“ freigesprochen. Er soll Frauen sexuell belästigt haben

Von Simone Schmollack

Das Stück, das da diesen Sommer in Saal C15 des Amtsgerichts zu sehen war, kann es an Dramatik und Umfang mit großen Theatervorstellungen aufnehmen: Das Amtsgericht Lübeck hat den ehemaligen Leiter der Opferschutzorganisation „Weißer Ring“ in Lübeck freigesprochen. Mehrere KlientInnen hatten ihm sexuelle Belästigung vorgeworfen. Die konnte dem Angeklagten nicht nachgewiesen werden.

Erster Akt

Bei Prozessbeginn am 20. Juni ist der Saal bis auf den letzten Platz besetzt. Strafrechtlich geht es zunächst nur um eine Geldstrafe, höchstens ein paar Monate Haft. Aber die Sache ist pikant, denn die Hauptperson ist der pensionierte Polizist Detlef H., 74 Jahre alt. Er war Leiter der Lübecker Opferorganisation Weißer Ring und soll sich vor einer Klientin entblößt haben.

Brisant ist auch, dass 28 weitere Frauen den Opferhelfer angezeigt hatten und ihm sexuelle Belästigung, Beleidigung, Grenzüberschreitungen vorwerfen. „Herr H. hat seine Macht dafür genutzt, an Frauen zu kommen“, wird eine Psychologin des Weißen Rings während des Prozesses aussagen.

Nur eine der Anklagen hat es bis vor Gericht geschafft, diejenige von Dora M. Als sie im April 2016 Hilfe beim Weißen Ring sucht, hat ihr Mann sie gerade verlassen, sie ist pleite und sucht dringend eine Wohnung, allein mit drei Kindern und schwanger. Detlef H. hilft engagiert, gibt ihr Geld und vermittelt ihr eine Wohnung. Sie vertraut ihm. Dann, bei einem Treffen allein, soll er seinen Penis entblößt und sie aufgefordert haben, ihn anzufassen und sich auch auszuziehen. Er soll ihr vorgeschlagen haben, als Prostituierte zu arbeiten. Er streitet das ab.

Zweiter Akt

Der Prozess erweckt streckenweise den Eindruck, als würde nicht Detlef H. auf der Anklagebank sitzen, sondern Dora M. Die Nebenklägerin wurde schon wegen Betrugs verurteilt, immer ging es dabei um Geld. Eine ehemalige Vermieterin sagt gegen sie aus: Sie habe eine gemietete Wohnung mit 12.000 Euro Mietschulden in chaotischem Zustand hinterlassen.

Durch das Publikum geht ein Raunen: Warum wurde gerade sie als weibliche Hauptperson ausgewählt? Andere Kandidatinnen gab es ja genug, die Detlef H. verbale Ausfällen vorwerfen, Berührungen des Oberschenkels, erzwungene Zungenküsse oder hartnäckiges Stalking. Was ist das für ein Rechtsstaat, in dem diese sexuellen Übergriffe bis Ende 2016 legal waren und es teilweise bis heute sind?

Andererseits wird verwiesen auf die Unterscheidung zwischen der Glaubwürdigkeit einer Person (als Person) und der Glaubhaftigkeit einer Aussage. Nur auf diese komme es hier an, jedenfalls ist das der Anspruch des Gerichts. „Selbst wenn Frau M. jeden Tag eine Tankstelle überfallen würde, dürfte man ihr ein solches Verhalten nicht antun“, kommentiert Richterin Andrea Schulz.

Alle warten mit Spannung auf das Gutachten einer Gerichtspsychologin über Dora M., das als richtungsweisend für das Urteil gilt. Als es kommt, kann Detlef H. aufatmen: Dass die Nebenklägerin in ihren Aussagen dramatisiert, Dinge hinzuerfunden oder falsch erinnert haben könnte, das könne nicht ausgeschlossen werden.

Dritter Akt

Staatsanwältin Magdalena Salska möchte nachweisen, dass H. „nicht fähig war, gewisse sexuelle Grenzen einzuhalten“, wie Verteidiger Oliver Dedow es ausdrückt. Einige der Frauen, die ihn angezeigt hatten, sprechen nun als Zeuginnen aus. Eine erzählt, Detlef H. habe in seine Hose hinein masturbiert, während sie von einem sexuellen Missbrauch berichtete. Sie ist bis heute traumatisiert. Die Aussagen zeichnen das Bild eines Mannes, dessen Beuteschema Frauen in Extremsituationen gewesen zu sein scheinen. Eine Kollegin in Rendsburg hatte gerade ihren Mann verloren, als er sie „zum Trost“ ins Theater einlud. Danach, erzählt sie, habe er hartnäckig versucht, ihre Brüste zu berühren, sie zu küssen, mit ihr zu schlafen. „Dabei nahm er keine Rücksicht darauf, was ich möchte“, sagt sie. „Ich weiß jetzt, wie sich schutzlose Opfer fühlen.“

Am letzten Tag der Beweisaufnahme beantragt Robert Nieporte, der Anwalt von Dora M., ein psychiatrisches Gutachten für Detlef H.: Alles deute darauf hin, dass dieser sexsüchtig sei. Um Frauen vor ihm zu schützen, solle das Gericht eine Therapie anordnen. Die Richterin weist den Antrag ab: Für die Urteilsfindung sei eine eventuelle Sexsucht nicht entscheidend.

Das Finale

Am Tag der Urteilsverkündung treten sich die Kameraleute auf die Füße. Richterin Andrea Schulz spricht wie immer leise, flüssig, versucht, alle Seiten einzufangen. Aber jetzt gibt es nur schuldig oder nicht schuldig. Denn juristisch entscheidet nur die eine Frage: Hat sich Detlef H. an jenem Abend im April 2016 vor Dora M. entblößt? Es steht Aussage gegen Aussage. Die Abhängigkeit zwischen Berater und Opfer, die Spur aus Traumatisierungen, die H. hinterlassen haben muss, wenn all diese Frauen die Wahrheit sagen – vor Gericht sind das Nebenschauplätze. Dann sagt Schulz das entscheidende Wort: Freispruch.

„An dem Allgemeinen ist etwas dran, natürlich ist da was dran, aber für eine Verurteilung reicht es nicht“, sagt sie in ihrer Begründung. Manchmal sind Recht und Moral zwei verschiedene Dinge.

Entscheidend ist: Die Richterin hat Dora M. nicht geglaubt. „Sie fühlt sich um ihre Gerechtigkeit betrogen“, sagt ihr Anwalt. Für die Geschäftsführerin der Frauenberatungsstellen in Schleswig-Holstein, Katharina Wulf, ist der Freispruch „ein fatales Signal an alle Frauen in ähnlichen Situationen: Stillhalten, Aushalten, Mund halten“.

Die Fortsetzung

Mit dem Urteil ist das Stück nicht zu Ende. Die Staatsanwaltschaft hat drei Monate Haft gefordert, nun wird sie Berufung einlegen. Das Verfahren wird komplett neu aufgerollt. Es ist kein schönes Stück, das da gespielt wird, aber ein wichtiges Stück, in dem es darum geht, was normal ist im Umgang zwischen Berater und Klientin, zwischen Männern und Frauen. Was sein darf und was nicht.

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