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„Alles was gerettet wird, ist gut“

Reinhart Schwarz leitet seit 31 Jahren das Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS). Ein Gespräch über sprechende Postkarten und den Lernwillen der Linken

Langsam wird es eng in den Regalen: Reinhart Schwarz im Archiv Foto: Miguel Ferraz

Interview André Zuschlag

taz: Herr Schwarz, wir stehen hier zwischen Regalen, die voll sind mit Dokumenten zur RAF, zur Friedens-, Studenten- und Umweltbewegung oder dem Nachlass von Rudi Dutschke. Wirkt langsam eng hier.

Reinhart Schwarz: Noch haben wir Platz. Hier belegen die Archivbestände 1.600 Regalmeter. Das entspricht in etwa zehn Millionen Blatt. Dazu kommen derzeit rund 400.000 Fotos.

Das Archiv wurde vor 31 Jahren gegründet. Wie ging das los mit der Gründung? Wie kam es, dass Sie Archivleiter wurden?

Die Bezeichnung „Leiter“ kam erst später und wäre für die Anfangszeit etwas irreführend. Ich war zunächst allein. Im ersten Jahr habe ich mich in der Szene der Bewegungsarchive umgesehen und Kontakt zu den Archivkolleg*innen und möglichen Geber*innen aufgenommen. Wer sammelt was? Worauf sollte sich das Archiv des HIS konzentrieren? Das waren die anfänglichen Fragen. Es gab einen kleinen Grundstock, den Peter Offenborn vom Buchladen Osterstraße zusammengetragen hatte. Und dann ging es los.

Und dann hat sich das verselbstständigt?

Vom Zeitgefühl kamen mir die Jahre von 1988 bis 1990 viel länger vor als die gesamten Neunzigerjahre. Man fängt gerade an, einen wichtigen Teil der Geschichte der neuen Bundesrepublik zu archivieren und dann war es auf einmal die alte Bundesrepublik. Das hat eine Dynamik in den verschiedenen politischen Szenen ausgelöst, dass ich für die Akquise von Quellen nicht viel tun musste.

In diesen 31 Jahren kam nie der Moment, dass es langweilig wurde oder Sie mal etwas anderes machen wollten?

Nein, der kam nie.

Aber wie kam es, dass Sie mit der Archivierung der bundesrepublikanischen außerparlamentarischen Protestgeschichte begannen?

Ich hatte in den 1970ern in West-Berlin Politik, Philosophie und Geschichte studiert und dann an Ausstellungen und an Forschungsprojekten gearbeitet, ehe ich gefragt wurde, ob ich das Archiv aufbauen kann. Dafür bin ich dann nach Hamburg gezogen, denn ich wurde eingestellt, um für das Protestchronik-Projekt von Wolfgang Kraushaar Originalquellen aus einem breiten Spektrum der Protestbewegungen zu sammeln und nutzbar zu machen.

Was umfasst das Archiv?

Bei uns sind Fotos, Ton- und Filmaufnahmen, Plakate, Broschüren, Flugblätter, Vor- und Nachlässe von Akteur*innen oder Akten von politischen Gruppen, Rechtsanwält*innen und Zeitschriftenredaktionen zu finden. Die Arbeit des Archivs zielt auf die Sicherung der Überlieferung dieses Teils der „anderen“ Geschichte der Bundesrepublik ab, denn dafür ist niemand sonst qua Amt oder öffentlichem Auftrag zuständig oder fühlt sich verantwortlich. Allenfalls interessiert sich der Staats- und Verfassungsschutz in Teilen dafür. Was dort gesammelt wird, ist aber nicht öffentlich zugänglich.

Wie viel ist von dem, was hier liegt, noch nicht gesichtet worden?

Gesichtet worden ist fast alles, etwa 40 Prozent müssen noch bearbeitet oder, wie wir sagen würden: erschlossen werden. Archive schieben immer einen Berg Arbeit vor sich her.

Von den bearbeiteten 60 Prozent: Was davon hatten Sie mindestens einmal in den Händen?

Fast alles.

Das heißt, Ihr geballtes Wissen muss, wenn Sie Ende des Jahres in Rente gehen, irgendwie übergeben werden.

Ja, das ist eine große Aufgabe. Ich bin natürlich nicht aus der Welt, aber ich freue mich auch, wenn ich dann erst einmal raus bin. Die Einarbeitung meiner Nachfolgerin beginnt in Kürze.

Und haben Sie einige Archivalien, die Ihnen besonders wichtig sind?

Das ganze Archiv!

Aber Sie schnappen sich doch beim Durchlaufen bestimmt mal ein Dokument etwas häufiger und werfen einen Blick drauf?

Das kommt vor. Manche Quellen sind so sprechend und zeigen, was hier Wichtiges überliefert wird. Man spürt die Bedeutung auf dem Blatt Papier. Postkarten und Briefe an die Kommune 1 zum Beispiel. Einige Kommunarden waren ja auch medienbewusste Selbstdarsteller, ob Kunzelmann, Teufel oder Langhans. Darüber kommunizierten sie mit der ganzen Republik und das wurde dann rezipiert. Warum alle etwas über die K1 heute noch wissen, erklärt sich erst über solche Quellen.

Sie sammeln auch Quellen, die normalerweise nicht öffentlich zugänglich sind.

Ja, hier liegen zum Beispiel die Asservate, Ermittlungs- und Prozessakten gegen die Autonome Antifa M aus Göttingen, gegen die in den 1990ern ein Prozess wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung eröffnet werden sollte. Das Verfahren wurde auch unter der Bedingung eingestellt, dass die Quellen in unserem Archiv untergebracht werden.

Liegen hier auch Dokumente oder Bilder von Ihnen?

Ja, tatsächlich. Nicht mehr aus meiner Berliner Studierendenzeit, aber ich habe später in Nordhessen gewohnt. Da habe ich mich gegen Tiefflieger, gegen die Volkszählung und in der Friedens- und Anti-AKW-Bewegung engagiert. Leider ist eine Kiste mit Material aus Berlin bei einem Umzug verloren gegangen.

Nun gibt es auch bundesweit viele freie Archive, die Dokumente zu Protestgeschehen sammeln. Wie ist das Verhältnis zu denen?

Wir sehen uns nicht als Konkurrenten auf dem Markt der Quellen, das läuft alles sehr kollegial und solidarisch. Alles, was gerettet wird, ist gut. Selbst wenn mal gestritten wird, was ja auch richtig ist und dazugehört, ändert das nichts am guten Mitein­ander. Es gibt immer mal wieder Ansätze der freien Archive, ihr politisches Selbstverständnis zu diskutieren oder zu klären. Dabei werden aber eher die Unterschiede deutlich. Gemeinsam teilen wir das Anliegen, die Überlieferung der Quellen aus den Protest- und Gegenkulturbewegungen zu sichern, um die sich sonst keiner kümmern würde. Das ist aus meiner Sicht auch ein politisches Statement.

Aber freie Archive haben es wahrscheinlich nicht leicht, ihre Arbeit aufrechtzuerhalten?

Reinhart Schwarz

leitet seit 31 Jahren das Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Es ist das größte Archiv der Protestbewegungen in Deutschland. Ende des Jahres geht er in Rente.

Die Arbeitsbedingungen und die zur Verfügung stehenden Ressourcen sind relativ fragil – die Finanzierung ist immer ein Problem. Da gibt es vielleicht öffentliche Gelder, aber nicht alle wollen die natürlich nehmen, das Archiv in der Roten Flora zum Beispiel eher nicht. Aber es gibt ein gutes Miteinander. Ich verstehe unser Archiv so, dass wir auch etwas anbieten können. Wir sind gut ausgestattet, haben viel Erfahrung und das speisen wir auch gern in die Archivszene ein. Unser Vorteil ist, dass das Archiv Teil der Stiftung Hamburger Institut für Sozialforschung ist, die finanziell ausreichend und langfristig gesichert ist.

Sammeln Sie auch Quellen von Rechten?

Die sammeln wir auch, viele andere machen es nicht. Nur wenige freie Archive haben sich auf dieses Sammlungsgebiet im Rahmen ihrer Antifa-Arbeit spezialisiert. Es ist aber noch keine rechte Gruppe auf die Idee gekommen, uns ihre Quellen zur Verfügung zu stellen. Wir wären aber bereit, sie zu übernehmen. Mehr kann ich dazu gar nicht sagen.

Nanni Balestrini, Chronist der außerparlamentarischen Linken Italiens, beschreibt in seinem Buch „Die Unsichtbaren“ die staatliche Repressionswelle Ende der 1970er und wie das „Gedächtnis“ der autonomen Bewegung durch die Konfiszierung verschwunden sei – wie ist das in Deutschland?

Das hat es so in der Bundesrepublik nicht gegeben. Es kommt darauf an, auf wen man schaut. Klar gab es auch Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen, dabei wurde aber kein ganzes politisches Segment unsichtbar gemacht.

Das heißt, das Gedächtnis ist sozusagen intakt geblieben?

Leider beobachten wir, dass das Gedächtnis der Protestbewegungen und Gegenkulturen weit entfernt ist, intakt zu sein. Verluste entstehen auf vielfältige Weise, die natürlichste und verbreitetste Ursache ist das unbedachte Entsorgen durch die Zeitzeugen. Aber auch auf Seiten der Archive stoßen wir an die Grenzen des Machbaren. Und mit dem Lernen ist das so eine Sache. Dazu gehört ja auch der Wille zum Lernen.

Wird das Archiv für politische Arbeit genutzt?

Es wird wenig für die aktive politische Arbeit aus den Szenen genutzt. Es dient überwiegend der Forschung unterschiedlichster Disziplinen. Zu erwähnen sind auch zahlreiche Ausstellungsmacher*innen. Sie nutzen die Quellen, um historische Themen aufzuarbeiten, einem breiteren Publikum näherzubringen und im besten Fall Aufklärung zu leisten. Damit sind wir wieder beim Lernen.

Man kann angesichts der gegenwärtigen politischen Verhältnisse sagen, dass linker Protest nicht so erfolgreich war. Lagert hier die Geschichte einer langen Niederlage?

Das hat man eine ganze Weile so gesagt und ich habe das auch gesagt. Aber heute würde ich das nicht mehr tun. Die Gesellschaft sollte den vielen Menschen, die sich auf den verschiedensten Feldern engagieren, dankbar sein. Lebendig und stabil gehalten wird unsere Demokratie in nicht geringem Umfang auch durch die Impulse aus dem außerparlamentarischen oder, wie es heute heißt, dem zivilgesellschaftlichen Engagement. Und diese Impulse, aus der Frauenbewegung, der Schwulenbewegung, der Umweltbewegung und vieler anderer mehr, haben ja immer wieder die Verhältnisse aufgemischt und dazu beigetragen, dass sie neu zurechtgerückt wurden.

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