Wohnen in Windrichtung des Fabrikrauchs

Stadtspaziergang II In Wedding führt Stefan Zollhauser durch das prekäre Berlin des 20. Jahrhunderts und erzählt die vernachlässigten Geschichten der Stadt

Da, wo heute Wohnhäuser stehen, stand eine Kirche, die „Dienst an Arbeitslosen“ leistete

Von Anina Ritscher

Stefan Zollhauser breitet eine Stadtkarte von Berlin aus. „Wo, denkt ihr, sind wir?“ Die Karte von 1835 hat nur wenig Ähnlichkeit mit dem Berlin von heute. Zehn Leute, die um Zollhauser herum in einem Kreis stehen, suchen angestrengt nach Anhaltspunkten. „Wir sind hier: Ackerstraße Ecke Bernauer Straße“, löst Zollhauser auf und deutet auf den Fleck auf der Karte, der heute bei der Gedenkstätte Berliner Mauer liegt, sich damals aber außerhalb der Stadtmauern befand.

Zollhauser führt auf historischen Stadtspaziergängen durch Berlin. Aber anstatt die Teilnehmenden zum Brandenburger Tor oder zur Berliner Mauer zu führen, nimmt er sie heute mit ins Berliner Prekariat des frühen 20. Jahrhunderts. Hier an der Ackerstraße zum Beispiel sei früher Armuts­prostitution weit verbreitet gewesen und das Verbot von Abtreibung führte dazu, dass jedes Jahr 10.000 bis 30.000 Frauen bei illegalisierten Eingriffen ums Leben kamen.

Und auch eine Straßenecke weiter war das Leben von Elend und schlechten Wohnverhältnissen geprägt: Wo heute ein ganz normales Mehrfamilienhaus steht, stand früher eine sogenannte Mietskaserne. Darin wohnten zu Beginn der Industrialisierung 2.000 Arbeiter*innen auf engstem Raum und in bitterer Armut. Damals entstanden im Wedding viele solcher Unterkünfte für Arbeiter*innen, außerhalb des Stadtzentrums und in Windrichtung des Fabrikrauchs.

Stöbern in Archiven

Im Winter taucht Zollhauser ab in die Archive, auf der Suche nach solchen Geschichten der Stadt. Der Historiker und Pädagoge wohnt seit sechzehn Jahren in Berlin und arbeitet für verschiedene Museen. Im Sommer, wenn er wiederaufgetaucht ist, geht er nebenher auf historische Spurensuche.

Zollhauser möchte nicht nur an das Elend und die Armut der Zeit erinnern, sondern auch an Formen des Widerstands und der Solidarität. Die Mietskasernen hatten den Vorteil, dass sich die Bewohner*innen leicht organisieren konnten. Die 1918 von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gegründete Zeitung Rote Fahne berichtete etwa von einem Weddinger Mietstreik, der eine Sanierung der sanitären Anlagen forderte, erzählt Zollhauser.

Und gleich gegenüber, da, wo heute Wohnhäuser stehen, stand eine Kirche, die „Dienst an Arbeitslosen“ leistete. Das hieß konkret: Gratis Schrippe und Kaffee für Menschen in Not – und dazu eine Predigt. „Das Ziel war natürlich, die Arbeits- und Wohnungslosen zurück in den Schoß der Kirche zu holen – und sie von der Revolution abzuhalten“, erklärt Zollhauser. Ungewöhnlich war das soziale Engagement für eine Kirche trotzdem.

Einer Teilnehmerin gefällt besonders, dass die Spaziergänge politische Aspekte der Geschichte Berlins beleuchten. Sie ist schon zum zweiten Mal dabei. Wie die meisten, die an den Stadtspaziergängen teilnehmen, wohnt sie in Berlin. Die heutige Spurensuche heißt „Prekäres Berlin“, andere Spaziergänge nennen sich „Kolonialer Wedding“ oder „Rebellisches Berlin“.

Zuletzt führt Zollhauser die Gruppe zum ehemaligen Obdachlosenasyl Wiesenburg in der Weddinger Wiesenstraße. Es ist der einzige historische Ort auf dem Spaziergang, der in Teilen noch steht. Im Gegensatz zum städtischen Obdachlosenasyl gab es hier keine Polizeikontrollen, auch deswegen galt die Einrichtung als Vorzeigeobjekt sozialer Arbeit.

Die Vergangenheit in Zollhausers Erzählung verleiht den Weddinger Straßen eine historische Tiefe, und gleichzeitig lassen sich Parallelen zur Gegenwart ziehen: Schon damals waren Immobilien eine beliebte Kapitalanlage. Und die ärmere Bevölkerung konnte sich nur die Mieten außerhalb der Stadtmauern leisten.

Alle Spurensuchen auf

www.berliner-spurensuche.de