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Notgemeinschaft
bootet Salvini aus

Italien kann doch noch Kompromiss: Um drohende Neuwahlen und die eigene Niederlage zu verhindern, will die Fünf-Sterne-Bewegung mit den Sozialdemokraten eine Regierung bilden

Im italienischen Parlament wird politisch umgebaut Foto: Rocco Rorandelli/TerraProject/contrasto/laif

Von Michael Braun
und Eric Bonse

Am Donnerstagmorgen um 10 Uhr war alles klar. Staatspräsident Sergio Mattarella hatte den neun Tage vorher zurückgetretenen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte einbestellt, um ihm den Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung zu erteilen. Die vom Lega-Chef und bisherigen Regierungspartner Matteo Salvini so heftig herbeigesehnten Neuwahlen sind damit erst einmal abgewendet.

Der alte Regierungschef soll also weitermachen – allerdings an der Spitze einer neuen Koalition. An die Stelle des Bündnisses zwischen den Fünf Sternen und der migranten- und EU-feindlichen Lega tritt jetzt eines zwischen Movimento 5 Stelle („M5S“ – Fünf-Sterne-Bewegung) und dem gemäßigt linken Partito Democratico (PD).

Dass diese noch vor vier Wochen von wirklich allen in Italien für undenkbar gehaltene Koalition zustande kommt, wurde schon am Mittwochnachmittag klar. Da begab sich erst der PD-Vorsitzende Nicola Zingaretti zum Staatspräsidenten Mattarella, um ihm mitzuteilen, seine Partei akzeptiere „den Vorschlag des M5S, Conte als Ministerpräsidenten zu benennen“. M5S-Chef Luigi Di Maio ließ kurz darauf Mattarella wissen, er habe mit der PD die „politische Vereinbarung“ zur Bildung der Regierung in trockene Tücher gebracht.

Noch Stunden zuvor hatte es so ausgesehen, als könne die Koalition auf der Zielgeraden platzen. Der PD nämlich wollte, als Zeichen des Neuanfangs, Conte als Nachfolger seiner selbst nicht akzeptieren. Am Ende akzeptierte er ihn. Jetzt stehen erst mal die Verhandlungen an, über das Regierungsprogramm genauso wie über die Aufteilung der Ministerien. Erneut wird es Verhandlungsbedarf geben, denn Luigi Di Maio, bisher Arbeits- und Wirtschaftsminister sowie Vizepremier unter Conte, will seinen Vizeposten behalten. Das aber will ihm der PD nicht zugestehen.

Scheitern dürfte diese Koalition aber wahrscheinlich nicht mehr – das Desaster für beide Partner wäre einfach zu groß. Doch an der Vertrauensbildung müssen PD und M5S, die einander bisher spinnefeind waren, noch kräftig arbeiten. Denn eines schien in den vergangenen Jahren sicher: Für den PD kamen die M5S-Populisten nie und nimmer als Koalitionspartner infrage. Aber von einem Tag zum anderen galt dies nicht mehr, einfach weil der Erdrutschsieg der Lega drohte. Salvini hatte nicht einkalkuliert, dass die neue Unübersichtlichkeit in der italienischen Politik den idealen Boden auch für völlig überraschende Volten bildet, wie sie jetzt der PD mit der Öffnung zum M5S vollzogen hat. Früher war das politische System in Italien zweigeteilt: Auf der einen Seite stand der Rechtsblock unter Silvio Berlusconi, auf der anderen das Mitte-links-Lager der Berlusconi-Gegner. Doch mit dem Aufstieg der Fünf Sterne ist Italiens politische Landschaft nicht mehr zwei-, sondern dreipolig. Matteo Salvini hatte vor drei Wochen den Koalitionsbruch vollzogen – er ging davon aus, dass an Neuwahlen kein Weg vorbeiführe. Jetzt ist er ausgebremst. Er hat sich verrechnet, und er ist auch in den Umfragen der Verlierer: Seine Lega gab in den letzten Wochen von 38 Prozent auf 33 Prozent nach.

Politisch erledigt ist Salvini damit jedoch noch lange nicht. Von Oktober bis Dezember 2019 werden Umbrien, Kalabrien und die Emilia Romagna ihre Regionalparlamente wählen. Dort wird er als vorgebliches Opfer von Politikern, die „bloß an ihren Sesseln kleben“ und den Volkswillen ignorieren, die Revanche suchen. Ob die gelingt, liegt jetzt vor allem an der neuen Koalition. Von „Mut“, von „Neuanfang“ sprach Zingaretti am Mittwoch – und in der Tat ist die Koalition zum Erfolg verdammt, wenn sie nicht einem Sieg der Salvini-Rechten bei den nächsten Wahlen den Weg bereiten will.

In seiner eigenen Partei indes genießt Zingaretti derzeit den nötigen Rückhalt – war es doch sein innerparteilicher Gegenspieler Matteo Renzi, der sich als Erster als Favorit der neuen Koalition geoutet hatte. Am Mittwoch jedenfalls erhielt Zingaretti bei der Sitzung des erweiterten 200-köpfigen Parteivorstands Standing Ovations. Es gab nur eine Gegenstimme gegen die Koalition. Dann wären da aber noch die Fünf Sterne. Sie wollen nächste Woche ein Online-Basisvotum einholen. Völlig auszuschließen ist ein Nein nicht – es wäre allerdings das Harakiri der Bewegung.

„Wir zählen auf Italiens aktiven Beitrag zum europäischen Projekt“

eine Sprecherin der EU-Kommission

Aus Brüssel kamen derweil schnelle Glückwünsche. Giuseppe Conte war kaum mit der Regierungsbildung beauftragt worden, da teilte eine Kommissionssprecherin in warmen Worten mit: „Italien spielt eine zentrale Rolle in unserer europäischen Familie, und wir zählen auf seinen aktiven Beitrag zum europäischen Projekt.“

Es klang wie ein Seufzer der Erleichterung. Mit Conte, das weiß man in Brüssel, kann die EU konstruktiv zusammenarbeiten. Mit dem bisherigen Innenminister und Lega-Führer Matteo Salvini konnte man es nicht. Vor allem in der Flüchtlings- und in der Finanzpolitik war Salvini für die EU ein rotes Tuch. Der Rechtspolitiker sperrte die italienische Häfen für Rettungsboote und drohte, sich über die strikten EU-Haushaltsregeln hinwegzusetzen.

Allerdings werden die Probleme auch mit Conte nicht über Nacht verschwinden. Er hat zwar eine humanere Migrationspolitik angekündigt und dürfte, so hofft man in Brüssel, keine neuen Flüchtlingsdramen provozieren. Doch an der katastrophalen Lage in Libyen – von wo aus die meisten Boote gen Italien ablegen – ändert sich ebenso wenig wie am Streit über die Seenotrettung. Wie es weitergeht, soll ein EU-Krisentreffen am 19. September auf Malta klären.

Immerhin dürfte Italien dabei nun nicht mehr den Quertreiber spielen, sondern eine moderatere Rolle suchen. Das erwartet man in Brüssel auch in der Budgetpolitik. Bereits vor der Sommerpause hatte sich die EU-Kommission mit Rom auf Leitlinien für den Haushalt 2020 geeinigt und ein Defizitverfahren eingestellt. Salvini hatte die Einigung sofort wieder infrage gestellt – nun erwartet Brüssel, dass sich Rom an die Absprachen hält. Das neue Budget soll bis Oktober vorliegen und für Ruhe an den Finanzmärkten sorgen.