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Wenn alte Narben wieder aufbrechen

Japan und Südkorea streichen sich gegenseitig von der Liste „bevorzugter Handelspartner“. Es geht um weit mehr als die Erschwerung der Wirtschaftsbeziehungen

Klare Ansage von Schülern vor der japanischen Botschaft in Seoul Foto: Ahn Young-joon/ap

Aus Seoul Fabian Kretschmer

Um die Hysterie zu begreifen, die Südkoreas öffentlichen Diskurs seit Wochen bestimmt, reicht es, die größte Tageszeitung des Landes aufzuschlagen: Einen Leitartikel widmet die Chosun Ilbo der Getränkewahl von Lee Hae-Chan, dem Vorsitzenden der linksgerichteten Regierungspartei. Der Politiker hatte während eines Arbeitsessens in einem japanischen Restaurant Sake bestellt. Derzeit genügt das für einen handfesten Skandal. Als „Verräter“ wurde Lee bezeichnet, als „unpatriotisch“ und „scheinheilig“. Denn am 2. August hatte die japanische Regierung sein Nachbarland Südkorea von der sogenannten weißen Liste ­bevorzugter ­Handelspartner gestrichen.

Bereits einen Monat zuvor hat Tokio seine Exportbestimmungen für drei Chemikalien verschärft. Dies wird in Korea als Angriff auf die Achillesferse der heimischen Wirtschaft aufgefasst – die Elek­tro­nik­branche. Südkoreanische Firmen wie Samsung und LG hängen in ihrer Zulieferkette von japanischen Chemikalien ab, um Halbleiter und Flachbildschirme produzieren zu können. Die koreanische Halbleiterindustrie ist mit einem globalen Marktanteil von über 16 Prozent die zweitgrößte der Welt.

Präsident Moon Jae In berief umgehend eine Krisensitzung ein und trat dann sichtlich erbost vor die Fernsehkameras. „Ich warne eindrücklich, dass die japanische Regierung allein verantwortlich für das sein wird, was künftig passiert“, sagte er. Dann salutierte er mit der rechten Hand vor der Brust vor der südkoreanischen Flagge, während im Hintergrund die Nationalhymne ertönte. Nur wenig später erklärte seine Partei, dass Japan endgültig einen Witschaftskrieg erklärt habe. Wenige Tage später wird er seinen Landsleuten mitteilen, dass Korea sich niemals seinem Nachbarland geschlagen geben würde.

Wer die Hintergründe dieses jahrzehntelangen Konflikts verstehen will, muss nur an einem Mittwochmittag zur japanischen Botschaft in Seoul gehen: Hunderte Aktivisten, Oberschüler, Fernsehteams und Bereitschaftspolizisten drängen sich auf dem Bürgersteig der von Glastürmen gesäumten Straße. Mit Regenschirmen trotzt die Masse dem koreanischen Sommermonsun, Schlachtchöre übertönen den Lärm der Taxis und Liefer­mopeds. Nonnen sprechen Stoßgebete, ältere Herren verteilen Süßigkeiten an die Teenager.

Woche für Woche erinnern die Demonstranten an die Gräuel, die die ehemaligen Kolonialmacht Japan verübt hat, die die koreanische Halbinsel von 1910 bis 1945 besetzt hatte: etwa das Leid der Abertausende „Trostfrauen“, die das japanische Militär während des Zweiten Weltkriegs in die Zwangsbordelle ihrer Armee schickte; oder aber die koreanischen Zwangsarbeiter, die von japanischen Unternehmen während der Kolonialzeit brutal ausgebeutet wurden. Die Entschuldigungen, die die Nachkriegsregierungen Tokios immer wieder ausgesprochen haben, werden von den linksgerichteten Demonstranten nur als halbherzig und unaufrichtig abgetan. Der aktuelle Handelskonflikt ist untrennbar mit diesem dunklen Kapitel der Geschichte verbunden, wie eine Mitarbeiterin der japanischen Botschaft im Seouler Korrespondentenclub erklärt: „Die Vertrauensgrundlage ist nicht mehr gegeben, seit Südkoreas Regierung im Jahr 2015 ein interna­tional gültiges Abkommen mit uns gebrochen hat.“

Damals unterschrieben Japans Premier Shinzō Abe und Südkoreas konservative Ex-Präsidentin ein Schweigeabkommen: Nach einer Entschuldigung und Entschädigungszahlung sollte der historische Streit über Japans Kolonialvergangenheit in Korea nun endgültig beigelegt werden. Der jetzige linksgerichtete Präsident Moon jedoch löste die Einigung wieder auf. Wenig später verurteilte der Oberste Gerichtshof in Seoul japanische Unternehmen zu Entschädigungszahlungen an die Hinterbliebenen von südkoreanischen Zwangsarbeitern während der Besetzung durch Japan.

Der 15. August 1945 in Japan und Korea

In Japan

Am 15. August 1945 erklärte Japans damaliger Gottkaiser Hirohito nach dem Atombombenabwurf auf Hiroschima und Nagasaki die Kapitulation. Er tat dies per Radioansprache. Die meisten Japaner hatten den Tenno zuvor noch nie live gehört.

In Korea

Der 15. August 1945 bedeutet für die Koreaner nicht nur das Endes des Zweiten Weltkriegs im Pazifik, sondern auch das Ende als japanische Kolonie, die das Land seit 1910 war. Doch sogleich begann die Teilung in einen sowjetisch besetzten Norden und einen amerikanisch besetzten Süden. (han)

Die Schadenersatzforderungen könnten bis in den zweistelligen Milliardenbereich steigen. „Shinzō Abe sendet nun eine politische Botschaft an Südkorea, seine Position bezüglich der Kompensation von Zwangsarbeitern während der japanischen Kolonialzeit zu ändern“, sagt Professor Byoung Joo Kim von der Hankuk-Fremdsprachenuniversität in Seoul. Das wissen auch die erzürnten Demonstranten vor der japanischen Botschaft. Und sie haben bereits einen Weg gefunden, sich zur Wehr zu setzen. „Asahi war mein Lieblingsbier, aber das kaufe ich mittlerweile nicht mehr – genau wie sämtliche Produkte aus Japan. So kann ich meinen Beitrag leisten, Druck auf die Regierung Abes auszuüben“, sagt der NGO-Mitarbeiter Pang Ju Il. Wie viele andere hat auch Pang ein Plakat mitgebracht, auf dem in großen Lettern „No. Boycott Japan“ steht.

Die progressive Politikerin Kim So Hee, die ebenfalls vor die Botschaft gezogen ist, macht deutlich, dass sich der Protest nicht gegen die japanische Bevölkerung richtet: „Die Vergangenheit ist die Vergangenheit. Die Leute können nichts dafür. Es geht uns darum, uns gegen die Regierung Japans zur Wehr zu setzen.“

Die Stimmung wird sich hochschaukeln: Am Donnerstag feiert das Land den Tag der Unabhängigkeit von den japanischen Besatzern. In diesem Jahr werden die Feierlichkeiten vom Zorn gegen die Abe-Regierung überschattet. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Realmeter würden mittlerweile rund 65 Prozent aller Koreaner am Boykott gegen japanische Produkte teilnehmen. Die Umsätze der japanischen Kleidungskette Uniqlo sind seit Beginn des Konflikts um 40 Prozent eingebrochen. Die Zahl koreanischer Touristen in Japan hat sich in der zweiten Juli-Hälfte um 13 Prozent verringert, mehrere koreanische Fluglinien haben ihren Verkehr ins östliche Nachbarland reduziert. „Wir führen zwar immer noch japanische Produkte, aber unsere Kunden haben aufgehört, diese zu kaufen“, sagt die Managerin eines Ladens in der Seouler Innenstadt. Eine Verkäuferin in der Konkurrenzfiliale bestätigt: „Die Einzigen, die noch das japanische Asahi-Bier bei uns kaufen, sind Ausländer.“

Der Antijaponismus zeigt vermehrt seine hässliche Fratze: Nach einem regierungskritischen Bericht des japanischen Fernsehsenders Fuji TV sind Studentenaktivisten in sein Seouler Korrespondentenbüro gestürmt, haben das Logo des Senders zerstört und die Redaktion eingeschüchtert. Vor einem Restaurant in der Küstenstadt Busan hängt ein Schild mit der Aufschrift: „Keine Japaner willkommen!“

Wie stark die japanfeindliche Haltung in Südkorea verbreitet ist, lässt sich auch am Bildungssystem ablesen. „Wann immer wir über Japan im Unterricht geredet haben, hat mein Geschichtslehrer – ein an sich besonnener Mann – wie wild angefangen, zu fluchen und Schimpfwörter zu benutzen“, sagt die 26-jährige Alex Kim, die als Designerin in der Animationsbranche arbeitet. Zwar würde ihre Generation entspannter mit dem Thema Japan umgehen, doch nach außen hin gebe es sozialen Druck: „Viele meiner Freunde haben ihren Japan-Urlaub gecancelt – obwohl sie eigentlich fahren wollen. Denn nun haben sie Angst, von ihrem Umfeld an den Pranger gestellt zu werden – etwa wenn sie Urlaubsfotos aus Japan auf Instagram posten.“ Ein mittlerweile in Deutschland lebender Komponist, der nicht genannt werden will, sagt sogar: „Viele von den Anti-Japan-Demonstranten haben nie gelernt, selber zu denken. Sie folgen einfach der Masse.“ Die gemeinsame Geschichte mit Japan sei wesentlich komplexer, als sie in Südkorea gelehrt wird. Auch politisch spritzt sich der Konflikt weiter zu: Präsident Moon Jae In hat bereits angedroht, ein Sicherheitsabkommen mit Japan aufzulösen, das als wichtiger Pfeiler der Dreiecksallianz zwischen den USA, Südkorea und Japan bei der Zusammenarbeit im Nordkoreakonflikt gilt. Zudem hat Moon angekündigt, in den nächsten sieben Jahren umgerechnet 5,8 Milliarden US-Dollar in Forschung und Entwicklung zu investieren, um die Abhängigkeit von japanischen Importen zu mindern.

Nüchtern betrachtet, löst der Handelskonflikt der zwei ostasiatischen Demokratien eine Hysterie aus, die faktisch nicht gerechtfertigt ist. Sanjeev Rana, Tech-Analyst von der Investmentgruppe CLSA Korea, sagt: „Das Streichen Südkoreas von der weißen Liste geht zunächst mit keinerlei Exportverboten einher, sondern lediglich mit längeren Genehmigungsprozeduren und kleineren Unannehmlichkeiten.“ Der Wirtschaftsexperte geht zudem davon aus, dass es weder mittelfristig zu Produktionsunterbrechungen bei südkoreanischen Unternehmen kommt noch dass der Handelsstreit Auswirkungen auf die Preise südkoreanischer Produkte haben wird.

Verkäuferin in der Innenstadt Seouls

Wissenschaftler Kim meint dagegen, dass der jüngste Handelsdisput mit Japan eine Mahnung für Südkoreas Unternehmen ist: „Wir können nicht nur von einem Land abhängen – weder von Japan noch von China. In unserer Ära, in der protektionistisches Denken zunimmt, wie etwa bei Donald Trump und Xi Jinping, müssen wir uns weiter diversifizieren.“

Für viele Politiker – insbesondere der nationalistisch angehauchten Linken – ist die antijapanische Stimmung ein willkommener Anlass, politisches Kapital daraus zu schlagen. Erst letzte Woche wollte sich die Lokalregierung des Jung-Bezirks in der Seouler Innenstadt an die Speerspitze der Boykottbewegung stellen, in dem sie über tausend Transparente an gern von Touristen besuchten Orten aufhängen ließ. „Ich werde nicht nach Japan reisen, werde keine japanischen Produkte kaufen!“, stand dort geschrieben. Es dauerte keine fünf Stunden, bis diese wieder abgehängt werden mussten. Sofort reichten über 20.000 Koreaner eine Onlinepetition ein, die ihr Anliegen für die Machtspielchen von Politikern missbraucht sahen. „Der Boykott sollte auf der Basis individueller Entscheidungen erfolgen, und keine von der Regierung ­gesteuerte Anti-Japan-Kampagne sein“, hieß es.

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