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Die arabische Geschichte von Notre-Dame de Paris

Vor dem Wiederaufbau der abgebrannten Kathedrale des Erzbistums von Paris eine kleine Rückbesinnung auf die architektonische Geschichte

Von Fabian Goldmann

Die Flammen war noch nicht gelöscht, da be­gannen in sozialen Netzen schon die Verdächtigungen: Hatten Araber mit „Allahu Akbar“-Tweets ihre Freude über den Brand von Notre-Dame de Paris zum Ausdruck gebracht? Schossen französische Muslime Grinse-Selfies vor der brennenden Kathedrale? Hatten gar islamistische Terroristen das christliche Gotteshaus in Brand gesteckt? Wenige Tage später drehte sich die Stimmung: Nun galt die hohe Spendenbereitschaft für den Wiederaufbau vielen als Beleg für Dekadenz und Bigotterie des christlichen Westens.

Der Kampf gegen das Feuer war zwar gewonnen, der Kulturkampf um Notre-Dame de Paris dafür in vollem Gange. Dabei taugt das gotische Gotteshaus gerade nicht dazu, vermeintliche kulturelle Fronten zu beschwören. Im Gegenteil, der Bau des christlich-französischen Sakralbaus wäre ohne kulturellen Austausch mit der arabisch-islamischen Welt nicht möglich gewesen.

Die Entstehungsgeschichte von Notre-Dame beginnt offiziell im Jahr 1163 und überdauert rund 200 Jahre. So lange mussten die Pariser von der Grundsteinlegung durch Bischof Maurice de Sully bis zur Fertigstellung ihrer „lieben Frau“ warten. Wesentlich älter sind allerdings ihre ideellen Wurzeln.

Sie reichen zurück bis ins Syrien des 5. Jahrhunderts. In einem Gebiet, das Archäologen heute die „Toten Städte“ nennen, vollzog sich die Geburtsstunde des christlichen Kathedralenbaus. Im Nordwesten des Landes bauten frühbyzantinische Christen die ersten großen Basiliken.

Rund 30 Kilometer westlich von Aleppo entstand eine der prächtigsten, die Klosterkirche Deir Turmanin. Von ihr ist heute nichts mehr übrig, doch auf archäologischen Zeichnungen dürfte Notre-Dame-Besuchern eine Sache auffallen: die Fassade mit zwei Türmen. 30 Kilometer weiter lässt sich der Ursprung romanischen und gotischen Doppelfassadenbaus auch heute noch besichtigen. Auf einem Hügel nördlich von Idlib stehen die Ruinen der ebenfalls im 5. Jahrhundert gebauten Qalb Loze.

Dass sich der Stil nicht nur rasch in der Region, sondern auch in Europa verbreitete, ist der günstigen Lage der Kirchen zu verdanken. Auf einer nahe gelegenen alten römischen Handelsstraße zwischen Aleppo und Antiochia (heute Antakia) verkehrten regelmäßig Pilger und Händler.

Die britische Journalistin Diana Darke, die mehrere Bücher über die Kulturgeschichte Syriens geschrieben hat, vermutet, dass es Kreuzfahrer waren, die die Idee der Doppelturmfassade mit nach Westeuropa brachten.

Andere Autoren verweisen darauf, dass sich ihr Einfluss schon im 6. und 7. Jahrhundert in Europa nachweisen lässt. Sicher ist: Spätestens ab dem 11. Jahrhundert prägten die Doppeltürme romanische Kirchen überall in Westeuropa, wie zum Beispiel die Klosterkirche Saint-Étienne oder in Deutschland die Basilika St. Kastor in Koblenz. Diese wiederum beeinflussten die Erbauer gotischer Bauten wie der Notre-Dame.

Zwischen den beiden großen Türmen der Westfassade kann man einen weiteren arabischen Einfluss in der Notre-Dame sehen: das Rosenfenster. Die riesigen, mit Buntglas ausgeschmückten Fenster gehören zu den beeindruckendsten Elementen der Kathedrale. Nicht ohne Grund veröffentlichten viele Medien nach dem Brand eigens Artikel, nur um darauf hinzuweisen, dass die Fenster nicht beschädigt wurden.

Glück im Unglück hatte auch ihr historischer Urahn. Im 8. Jahrhundert ließen umayyadische Herrscher nahe der Stadt Jericho in Palästina eine riesige Palastanlage errichten.

Neben Moscheen, großzügigen Bädern und aufwendigen Stuck- und Mosaikarbeiten beherbergte der „Palast des Hischam“ auch ein rundes Fenster, das offenbar einem Rad nachempfunden war. Der Großteil der Anlage fiel einem Erdbeben zum Opfer, doch in den 1930ern entdeckten palästinensische Archäologen ihre Überbleibsel. Dank ihnen können Touristen heute das erste bekannte Radfenster der Welt bewundern.

Seine ideellen Nachkommen schmücken heute Kirchen in ganz Europa. Romanische Radfenster gibt es zum Beispiel am Basler Münster oder an der San Zeno Maggiore im italienischen Verona. Gotische Kirchenbauer entwickelten sie zu jenen Fensterrosen weiter, wie man sie an der Nord- und Westseite von Notre-Dame sehen kann.

Selbst das charakteristischste Merkmal gotischer Architektur lässt sich in die arabische und persische Welt zurückverfolgen: der Spitzbogen.

Lässt sich in die arabische und persische Welt zurückverfolgen: der Spitzbogen

Kulturhistoriker sind sich uneins, wo erstmals jemand auf die Idee kam, einen runden Bogen spitz zulaufen zu lassen. Im sassanidischen Palast Taq-e Kisra im Norden des heutigen Irak? In der byzantinische Kirche Qasr ibn Wardan in Syrien? Im umayyadischen Wüstenschloss Qusair Amra im heutigen Jordanien? Oder hat doch der amerikanische Islamwissenschaftler Tom Verde recht, der in seinem Aufsatz „The Point of the Arch“ vermutet, eine abbasidische Zisterne im heutigen Israel sei der Ursprung der Zuspitzung?

Sicher ist: Als der Spitzbogen im 11. Jahrhundert in Europa auftauchte, hatte er schon eine lange Reise durch die arabische und persische Welt hinter sich. Vor allem die Kairoer Ibn-Tulun-Moschee soll westliche Bauherren beeinflusst haben.

Erbauen ließ die Moschee, die bis heute die größte des Landes ist, der gleichnamige Abassiden-Stadthalter im 9. Jahrhundert. Sein Problem: Um das riesige Dach zu stützen, hätte es Hunderte Säulen im Innenraum benötigt. Die Lösung: Spitzbögen, die ein Vielfaches ihrer runden Vorgänger tragen können.

Es war derselbe Grund, der die Bauherren von Notre-Dame und Hunderter anderer Sakralbauten ab dem 11. Jahrhundert in Europa ihre Bögen spitz zulaufen ließen.

Gepaart mit der neuen Erfindung des gotischen Strebewerks verhalfen die Spitzbögen Notre-Dame zu einer bis dahin für unmöglich gehaltene Gewölbehöhe von über 30 Metern.

Für die heutige Diskussion bedeutet das: Mit der teilweisen Zerstörung von Notre-Dame hatten Araber nichts zu tun. Mit ihrem Bau, ihrer Bauform dafür umso mehr.

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