: Flanieren für die Freiheit
Erneut Demonstrationen in Moskau, erneut Massenfestnahmen, und die Stimmung wird angespannter. Die neue Protestbewegung macht Russlands Regierung sichtlich nervös
Aus MoskauKlaus-Helge Donath
Den Puschkin-Platz im Moskauer Zentrum hatten am Samstagnachmittag schon Nationalgardisten in graublauen Tarnanzügen in Beschlag genommen. Russlands Opposition hatte zu einem „Spaziergang“ gegen den Ausschluss unerwünschter Kandidaten von der Wahl für das Moskauer Stadtparlament am 8. September aufgerufen – eine Demonstration war verboten worden. Eine Woche zuvor hatten Sicherheitskräfte 1.400 Teilnehmer einer nicht genehmigten Veranstaltung zum gleichen Thema festgenommen.
Der innerstädtische Boulevard-Ring wurde diesmal also von den Veranstaltern zu einer Flaniermeile erklärt. Nationalgarde, Polizei und Truppen des Innenministeriums beherrschten ihrerseits das Gebiet um den sieben Kilometer langen Ring, den die Polizei mit Gittern abgesperrt hatte. Der Spaziergang konnte jederzeit zu einem Spießrutenlauf werden. In den Nebenstraßen hatte eine komplette Streitmacht Position bezogen. Die Heerscharen dürften den Demonstranten zahlenmäßig nicht nachgestanden haben. Moskau glich einer Festung.
Am Puschkin-Platz empfing die Spaziergänger ein Hinweis vom Band: Die Aktion sei nicht genehmigt. Wer sich hier einfand, war sich also des Risikos bewusst. Aufhorchen ließ jedoch der ungewöhnliche Zusatz, mit den jungen Sicherheitskräften behutsam umzugehen: Unter den Wehrpflichtigen könnten „auch Ihre Söhne sein“, erinnerte das Band.
Das war neu. Kaum war der Hinweis zu hören, da packten zwei dieser „Söhne“ den taz-Reporter und schleppten ihn zum Gefangenentransporter. „Beschweren kannst du dich später“, meinte die Nachwuchskraft. Ausweise und Papiere interessierten nicht. Hinter dem Aufgegriffenen schloss sich die Käfigtür. So etwas kann länger dauern. „Keine Zimperlichkeiten“, hatte die junge Kraft gewarnt.
Die Sicherheitskräfte nahmen nach Angaben des Bürgerrechtsportals OvD-Info insgesamt mehr als 800 Menschen fest. Sie griffen rücklings zu, sodass sich niemand wehren konnte, und sie griffen willkürlich zu. Die Demonstranten blieben friedlich, keiner ließ sich provozieren, meinten OvD-Beobachter am Abend. Unter den Festgenommenen waren viele, die mit dem Protest nichts zu tun hatten, auch Fußballfans des Moskauer Lokalderbys am Abend. Im Vorfeld hatte die Polizei versucht, das Spiel „wegen Doppelbelastung“ zu verschieben. Der Verband weigerte sich jedoch.
Schon vor dem Spaziergang war die Oppositionelle Ljubow Sobol aus dem Mitarbeiterstab des Putin-Herausforderers und Antikorruptionskämpfers Alexei Nawalny festgesetzt worden. Sobol wollte auch bei der Moskauer Wahl antreten, wurde aber ausgeschlossen. Seit drei Wochen befindet sie sich im Hungerstreik.
Die Atmosphäre war angespannt, bedrückter und ernster als sonst. Gelegentlich hupten ein paar Autofahrer aus Solidarität mit den eher jüngeren Protestlern. Behörden ermitteln unterdessen schon gegen einige Inhaftierte wegen „Anstiftung zu Massenunruhen“. Bis zu 15 Jahren Haft kann ein Urteil einbringen.
Ähnlich scharf reagierte die Staatsmaschine auch schon bei den letzten Unruhen nach dem Wahlbetrug bei den Parlamentswahlen 2011/12. Mit Einschüchterung, Repression und Willkürjustiz gelang es damals, die Proteste auszutrocknen. Sieben Jahre später ist eine andere Generation herangewachsen. Sie stellt gerade unter Beweis, dass sie von ihren Rechten nicht abrückt, auch wenn sie dafür mit Knüppeln traktiert wird.
Widerstandsgeist und Hartnäckigkeit beunruhigen den Kreml. Er reagiert schon auf kleinere Proteste mit massiver Gegenwehr aus panischer Angst vor Kontrollverlust. Aus ein paar tausend Demonstranten könnten schnell mehr werden. Die lassen sich dann nicht mehr lenken.
Die Wanne mit den Gefangenen öffnete sich nach einer Dreiviertelstunde. Für einige Journalisten mit den richtigen Papieren schloss ein Vorgesetzter der Nationalgarde den Käfig wieder auf. Andere hatten bereits Anwälte verständigt. Der Sommer ist kalt in Moskau. Der Herbst könnte heißer werden.
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