Psychologische Kriegsführung per Grenztunnel

Israel und der Hisbollah droht über eine mögliche Eskalation zwischen Washington und Teheran eine erneute Konfrontation. Nasrallah, Chef der Schiiten, warnt die USA vor Angriffen

Der militaristische Freizeitpark in Mleeta dokumentiert auf 60.000 Quadratmetern Fläche die Kriege der Hisbollah mit Israel Foto: Arnold Paira/laif

Von Jannis Hagmann

Steil geht es bergab. Nach wenigen Metern wendet sich der Gang nach links. Kopf einziehen, dann noch mal links. Spiralförmig gräbt sich der Tunnel in den felsigen Untergrund. „30 bis 70 Meter tief verläuft der Gang“, erklärt der Guide, die Sonnenbrille, die ihn draußen vor dem gleißenden Sonnenlicht geschützt hat, nun ins kurz geschorene Haar geschoben.

„Dieser Tunnel hier war beinahe funktionstüchtig“, erklärt er. „Auf israelischer Seite wollten sie durchbrechen, Geiseln nehmen und Bilder ihrer Flagge auf israelischem Territorium verbreiten.“

Tunnel Nummer 6, so nennt der Guide den unterirdischen Gang, den die libanesische Hisbollah unter der abgeriegelten Grenze bis hinein nach Israel gegraben hat. Nach Angaben der israelischen Armee ist Nummer 6 nur einer von sechs Angriffstunneln, mit denen die Schiitenmiliz ihre jüdischen Nachbarn attackieren wollte. Die Vereinten Nationen, die in dem Grenzgebiet für Deeskalation sorgen sollen, haben die Existenz von drei Tunneln bestätigt, die nach Israel führten. Die Hisbollah selbst erklärte, die Tunnel seien schon Jahre alt. Und: Sie seien nur einer der vielen Wege, auf denen die Hisbollah Israel angreifen könne.

Nun nicht mehr. „Die Hisbollah war überrascht“, erzählt der Guide, will aber nicht näher darauf eingehen, wie die Armee auf die Geheimgänge stieß. Nur so viel verrät er: „Israel hat sehr intime Informationen darüber, was innerhalb der Hisbollah vor sich geht.“ Von Geheimdienstinformationen redet er und von Bohrlöchern, die man von oben in den Boden gebohrt habe, um die Gänge zu lokalisieren. Trotzdem räumt er ein: Tunnel, tief unter der Erde, seien auch für die modern gerüstete israelische Armee eine „technologische Herausforderung“.

Tunnel Nummer 6 bleibt für die weitere Erforschung und Präsentation erhalten

Der Guide, der den Reporter in Tunnel Nummer 6 führt, will anonym bleiben. Doch dass er im Auftrag der israelischen Regierung arbeitet, ist kein Geheimnis.

Die Grenze zum Libanon, hinter der nicht die libanesische Regierung, sondern die vom Iran hochgerüstete Hisbollah das Sagen hat, ist einer der Hotspots des Großkonflikts zwischen Israel, den USA und ihren arabischen Verbündeten auf der einen und dem Iran und seinen Stellvertretern auf der anderen Seite. Die Welt soll sehen, wo das iranische Regime überall seine Finger im Spiel hat.

Mitte Juli erst wandte sich Hassan Nasrallah, der charismatische, vollbärtige Führer der Schiitenorganisation, an seine Anhänger und die Weltöffentlichkeit: „Wenn der Iran angegriffen wird, bedeutet das Krieg in der ganzen Region“, drohte er. „Wenn die Amerikaner verstehen, dass dieser Krieg Israel auslöschen könnte, werden sie es sich noch einmal überlegen.“ Demonstrativ holte er eine Landkarte Israels hervor, um seinen Nachbarn potenzielle Angriffsziele vor Augen zu führen – darunter der Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv.

Die Grenztunnel sind Teil dieser perfiden psychologischen Kriegsführung der Hisbollah. Dabei ist es an der Grenze seit dem Sommerkrieg 2006 zwischen der Hisbollah und Israel weitgehend ruhig geblieben. Auch im Fall einer erneuten Eskalation dürfte die Miliz kaum geplant haben, große Verbände durch die schmalen Gänge ins Nachbarland zu verlegen. Es geht darum, Angst und Schrecken beim Nachbarn zu verbreiten.

Unweit der kleinen israelischen Ortschaften Schtula und Sar’it hätten Hisbollah-Kämpfer jederzeit an die Oberfläche durchbrechen können – bis zu dem Zeitpunkt, als israelische Soldaten fündig wurden. Mit Beton hat die Armee die Tunnel mittlerweile gefüllt und unzugänglich gemacht. Nur die Nummer 6 ist bis hin zur sogenannten „blauen Linie“, die den Libanon von Israel trennt, weiter zugänglich – „um die Tunnel zu erforschen und zu präsentieren“, erklärt der Guide. Viel zu erforschen dürfte allerdings kaum sein: Kreisförmige Vertiefungen in den Steinwänden zeigen, wie sich die Hisbollah mit einem gewöhnlichen, zylinderförmigen Bohrer Stück für Stück durch den harten Untergrund grub. Den Schutt müssen die Arbeiter auf libanesischer Seite ans Tageslicht gebracht haben. Möglicherweise war der Eingang zum Tunnel auf libanesischer Seite als Baustelle getarnt.

Foto: Tunneleingang auf libanesischer Seite Foto:Jens Schwarz/laif

Der Weg aus der Grenzregion im israelischen Galiläa in die Hochburgen der Hisbollah im Südlibanon könnte sehr kurz sein. Nur wenige Kilometer trennen die nordisraelischen Ortschaften Sar’it und Schtula von den libanesischen Siedlungen, in denen die Tunneleingänge liegen. Doch die Grenze ist dicht. Stacheldrahtzaun und über weite Strecke eine meterhohe Mauer aus massiven Betonelementen versperren die Fahrt über die „blaue Linie“.

Die mühsame Reise zur anderen Seite der Mauer und zur Hisbollah führt über ein Drittland – zunächst bis nach Beirut und von der libanesischen Hauptstadt aus weiter auf dem Landweg. Schon in den südlichen Stadtteilen der Küstenmetropole ändert sich das Straßenbild auffallend. Die beliebten Fastfoodketten, die teuren Boutiquen für Dessous und die großen Modemarken, die das Zentrum Beiruts prägen, werden ersetzt von Spendendosen für schiitische Wohltätigkeitsvereine und von Plakaten mit den Fotos junger Männer, die als „Märtyrer“ in Syrien oder an anderen Fronten ihr Leben gelassen haben.

Nach einigen Kilometern entlang der Mittelmeerküste Richtung Süden schlängelt sich eine enge Straße den Berg hinauf. Auf einem Plakat am Straßenrand danken die Bewohner eines kleinen Dorfs ihrem Vertreter im libanesischen Parlament dafür, dass er die Straße hat asphaltieren lassen. Bei dem Dorf Mleeta, rund 20 Kilometer von der israelischen Grenze entfernt, empfängt der Parlamentarier persönlich. Mohammed Hassan Raad ist ein ernsthafter Mann mit breiten Schultern, behaartem Doppelkinn und festem Händedruck.

Während des Gesprächs prasselt der Hagel gegen die Fensterscheiben, immer wieder unterbrechen ohrenbetäubende Donnerschläge die Unterhaltung. Es ist, als hätte sich das Wetter dem Ort gefügt: Denn genau hier in den Bergen des Südlibanons war es, dass die Hisbollah ihren Kampf gegen Israel aufnahm – und ihren Gründungsmythos schuf.

Eroberte Panzer und ausrangierte Raketen locken Touristen zum Freiluftmuseum der Hisbollah

Wenn Raad vom Südlibanon spricht, dann spricht er auch von Israel. Wenn er von der Hisbollah spricht, dann sagt er nur: al-Muqawama, der Widerstand. „Die Wurzel unserer Existenz“, sagt Raad, „ist der Widerstand gegen die israelische Besatzung unseres Landes.“

1982, mitten im libanesischen Bürgerkrieg, waren die Israelis in den Libanon einmarschiert, drangen bis nach Beirut vor mit dem Ziel, die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) zu vertreiben, die den Libanon als Basis für ihre Attacken auf Israels Norden nutzte. „Frieden für Galiläa“, so nannte Israel die militärische Operation, mit der die knapp zwei Jahrzehnte andauernde Besatzung von Teilen des Südlibanons ihren Anfang nahm. Auf wachsenden Druck aus der eigenen Bevölkerung zog sich Israel im Sommer 2000 – mit Ausnahme der bis heute umstrittenen Schebaa-Farmen im Dreiländereck Libanon, Israel und Syrien – hinter die international anerkannte Grenze zurück und gab die „Sicherheitszone“ auf. In diesem Gebietsstreifen führte die Hisbollah über zwei Jahrzehnte ihren kostspieligen Guerillakrieg gegen Israel fort.

Die Hisbollah feiert bis heute den israelischen Rückzug als ihren Sieg. Um den Kampf gegen Israel zu glorifizieren, hat sich die Miliz einiges einfallen lassen. Vor der Tür, im prasselnden Regen, ragen Raketenwerfer aus dem Boden. Dort liegt ein zerstörter israelischer Panzer mit den Ketten gen Himmel in einem riesigen Krater, ein anderer hat einen Knoten im Kanonenrohr.

Foto: Eine Mutter und ihre Tochter bewundern die von der Hisbollah ausgestellten Waffen. Das 2010 erbaute Museum ist seit 2010 Attraktion für Touristen im südlibanesischen Mleeta Foto: Arnold Paira/laif

10 Millionen US-Dollar hat sich die Hisbollah ihren „Themenpark“ kosten lassen, eine Art militaristisches Disneyland auf 60.000 Quadratmetern, ein Freiluftmuseum im Dienste der Kriegspropaganda. Normalerweise ist der Park eine touristische Großattraktion. Nur wegen des Unwetters stehen die Kinderschaukeln heute still, und die Läden der Getränkeverkäufer, die sonst zwischen Katjuschas und zerstörten Merkavas für Erfrischung sorgen, bleiben verschlossen.

Der Widerstand hat sich verselbstständigt. Drinnen im Trockenen spricht der Abgeordnete Raad. Auf die Frage, ob die Hisbollah mit dem Abzug der israelischen Armee nicht ihre Existenzberechtigung verloren hat, holt der 64-Jährige weit aus. „Die gesamte Geschichte Israels von 1948 bis heute ist eine einzige Aggression.“ Im Streit um die Ausbeutung von Gasvorkommen im Mittelmeer entlang der ungeklärten Seegrenze zwischen Libanon und Israel setze sich die israelische Aggression fort. Nur noch zwei Länder in der Region würden heute verbleiben, die sich Israel noch entgegenstellen: Syrien und Libanon. Es sei, so findet Raad, nur eine Frage der Zeit, bis der Nachbar erneut angreife.

Die libanesische Armee, erklärt Raad, sei eine schwache Armee und dem Feind nicht gewachsen. „Sie reicht nicht aus, um Libanon zu verteidigen.“ Dass die Hisbollah es militärisch gesehen mit der staatlichen Armee aufnehmen könnte, dass dieser nichtstaatliche Akteur nach israelischen Angaben über 120.000 Raketen verfügt, ist in Raads Augen kein Problem mangelnder Staatlichkeit: „Die politischen Umstände machen den Widerstand notwendig für die Verteidigung des Libanon.“

Foto: Blick in eine Kommando­zentrale der libanesischen Schiiten im „Widerstandsmuseum“. An der Wand hängt das Konterfei von Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah Foto: Ali Hashisho/reuters

Was der Widerstandsthemenpark in Mleeta in seiner Fetischisierung des Militärischen nicht erzählt, ist die andere Seite der Hisbollah. Denn im Libanon ist die Organisation weit mehr als eine proiranische Schiitenmiliz oder eine bedrohliche Parallelarmee. „Wir haben Krankenhäuser und Schulen und sorgen für die Wasserverteilung“, berichtet Raad. Auch Zentren für Behinderte und für Drogenabhängige unterhalte die Hisbollah. Raad selbst sitzt seit 1992 als Abgeordneter im Parlament in Beirut. Bei der Bildung der neuen libanesischen Einheitsregierung Anfang des Jahres spielten Raad und seine Fraktionskollegen des Widerstandblocks eine entscheidende Rolle.

Dass die Hisbollah ihren Einfluss in der neuen Regierung ausbauen konnte und sich drei Ministerposten sicherte, wird im Ausland mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Nun kontrolliert ein Hisbollah-Vertrauter unter anderem das hoch budgetierte Gesundheitsministerium. Wohlmeinend ließe sich sagen: Die Hisbollah ist eine wichtige politische und soziale Kraft im Libanon. Weniger wohlmeinend muss man feststellen: Sie ist eine Organisation, die von den meisten westlichen Staaten als Terrororganisation betrachtet wird.

Eine Mäßigung in Bezug auf Israel hat die Einbindung in die libanesische Politik nicht bewirkt. „Die Hisbollah“, erklärt der israelische Tunnelführer auf der anderen Seite der Grenze, „hat verstanden, dass sie den Konflikt, um ihn am Leben zu erhalten, auf die israelische Seite der Grenze verlegen muss. „Nasrallah hat selbst gesagt, dass er den Kampf nach Galiläa tragen will.“ In den Augen des Guide ist die Schwäche der staatlichen libanesischen Armee gegenüber der proiranischen Hisbollah eins der zentralen Probleme. „Der libanesische Staat hat noch nicht einmal Zugang zu den Orten, an denen die Tunnel beginnen.“ Für ihn beginnt hinter der „blauen Linie“, hinter den Stacheldrahtzäunen und Betonbarrieren, nicht der Libanon, sondern „Hisbollah-Land“.