: Zwei, die auszogen, das Wohnen zu lernen
Der Deutsche Harry Neumann und der Belgier Michel Dewulf haben viele Jahre auf der Straße gelebt. Jetzt wollen sie zurück in ein geordnetes Leben. In Deutschland werden Obdachlose erst in Übergangsheimen untergebracht. In Belgien bekommen sie direkt eine Wohnung. Welcher Ansatz funktioniert besser?
Aus Esslingen und Brüssel Franziska Jäger
Den Rucksack geschultert, die grauen Haare nach hinten gegelt und eine Sonnenbrille auf der aufgedunsenen Nase, verlässt Harry Neumann, 52 Jahre, um zehn Uhr morgens sein Berberdorf. Die Siedlung aus Blockhütten und Containern liegt am Stadtrand von Esslingen in Baden-Württemberg. „Nicht in die Gegend pissen oder scheißen“, steht auf einem Schild am Ausgang. Harry Neumann humpelt in Richtung Supermarkt, manchmal schlägt sein Bein zur Seite aus, oder der Oberkörper zuckt. „Die Nerven“, sagt er. „Vom Saufen.“ Trotz der Schwierigkeiten beim Gehen kauft er jeden Tag ein. „Wenn ich nur mit den anderen Wohnungslosen rumhänge, werde ich bekloppt.“
Vor dem Aufzug eines Apartmentblocks in Brüssel, Belgien. Eine Frau mit Dauerwelle schiebt ihren Einkaufstrolley in den Fahrstuhl, als ein Mann mit Flipflops und einer Bierdose in der Hand zu ihr in den Aufzug springt. „Bonjour , Michel, spielen Sie heute gar nicht Boule mit den anderen?“, fragt sie und lässt ihre Dauerwelle in Richtung des kleinen Sandplatzes vor dem Hochhaus wippen. „Puh, non, impossible“ – unmöglich – erwidert Michel Dewulf, 48 Jahre, und wedelt sich Luft zu, „ich habe gehört, dass wir seit 1905 nicht mehr so eine Hitze hatten.“ Zwei lange, spitze Zähne sind von seiner unteren Zahnreihe übrig geblieben, von der oberen nur Zahnstümpfe. Seine Arme sind gezeichnet von tiefen, wulstigen Narben. Im Erdgeschoss angekommen, öffnet er das Türchen seines Briefkastens: „Nichts“, sagt Michel Dewulf und lächelt. Keine Mahngebühren, keine Aufforderung, die Wohnung wieder zu verlassen. Es ist die erste Wohnung in seinem Leben. Er drückt die 4 und fährt zurück nach oben.
Harry Neumann und Michel Dewulf – zwei Obdachlose in der Warteschleife für ein geordnetes Leben. In Deutschland gilt für Harry Neumann: Zuerst den Alkohol besiegen, dann eine richtige Wohnung bekommen. In Belgien gilt für Michel Dewulf: Zuerst die Wohnung beziehen, dann die Sucht besiegen. „Stufenmodell“ heißt der in Deutschland vorherrschende Weg und gilt für über eine Million Menschen ohne festen Wohnsitz. Sie müssen in einem komplexen System aus Notunterkünften und Übergangsheimen ihre Eignung und Zuverlässigkeit beweisen. „Housing first“ heißt der belgische Weg. Er gewährt Obdachlosen einen großen Vertrauensvorschuss. Welcher Weg funktioniert besser?
Um 11 Uhr morgens ist es noch ruhig in Harry Neumanns Berberdorf. Es gehört mit seinen 25 Bewohnern zu einem „Aufnahmehaus mit sozialer Betreuung“. Zwölf Holzhütten mit Heizung und Strom. Toiletten, Duschen und Waschmaschinen sind in Containern untergebracht. Ein Übergangsheim auf dem Weg in die Sesshaftigkeit, aufgehübscht von seinen Bewohnern mit Beeten und Gartenzwergen, Lampions, Holztischen und Bänken.
Die meisten schlafen noch, nur Harry Neumann ist von seinem Einkauf zurück und dreht sich eine Zigarette am Holztisch vor seiner Hütte. Ein Bootsruder hängt über der Tür, darunter ein aufgeblasener Ball, bedruckt mit einer Weltkarte. „War das wieder laut letzte Nacht“, ruft er Manni zu, seinem Nachbarn, der in einer weiten, am Bund umgekrempelten Jogginghose und ausgetretenen Latschen nach draußen schleicht. In den Händen eine Dose mit Tabak und eine andere mit Bier, setzt Manni langsam einen Fuß vor den anderen. Hüftschaden. Manni stellt seinen Proviant auf den Tisch, hält sich mit beiden Händen an der Kante fest und hebt erst das eine, dann das andere Bein über die Bank.
Wenn Harry Neumann und Manni so dasitzen, passiert nicht viel. Meistens schweigen sie. Die Tage verstreichen, ohne dass es viel Neues zu berichten gäbe.
„Das Fahrrad da hinten verkümmert noch ganz“, sagt Manni und zeigt auf den überdachten Anbau an Harry Neumanns Hütte.
„Erzähl nich so ’n Scheiß“, sagt Harry Neumann. „Das Fahrrad benutze ich regelmäßig.“ „Ach, du fährst damit? Kannst du das überhaupt noch?“ „Wenn ich morgens draußen bin, sitzt du doch noch in deiner Bude und guckst ‚Bonanza‘, du Knallkopp.“
„Ja, ja“, brummt Manni. „Selber Fischkopf.“
Harry Neumann kommt aus Nordfriesland, unweit der dänischen Grenze. Das hört man, wenn er „dat“ sagt oder das „Nee“ ganz lang zieht. Als er sich mit 24 Jahren von seiner Frau trennte, wollte er nur noch weg, sagt er. Er zog auf die Straße, das Freiheitsgefühl lockte. Harry Neumann betont, dass er noch ein richtiger Landstreicher war. Einer, der mit Rucksack von einem Ort zum nächsten wanderte, unter Brücken und freiem Himmel übernachtete. Er kam bis nach Dänemark, Norwegen, Frankreich und Italien. „Die meisten Obdachlosen heutzutage sind doch nur Stadtratten“, sagt er. „Ich hatte das größte Schlafzimmer und Bad, das man sich vorstellen kann.“ Eigentlich wollte er sein Landstreicherleben nur ein Jahr durchziehen. Aber dann sei er auf den Geschmack gekommen. „So bin ich OFW geworden“, sagt Harry Neumann. Ohne festen Wohnsitz. 20 Jahre „auf der Platte“ liegen hinter ihm.
Harry Neumann ist für die Bewohner Zukunft und Vergangenheit
Eigentlich sollen die Leute spätestens nach drei Monaten wieder raus aus dem Berberdorf und rein in eine Existenz mit Wohnung, Job und sozialen Kontakten. So sieht es das Konzept vor. Harry Neumann steckt nach acht Jahren noch immer im Provisorium fest. Es misst 16 Quadratmeter, vorne am Eingang ein Kühlschrank und eine kleine Kochstelle, hinten ein Doppelbett mit Ventilator und Fernseher davor, an der Wand hängen zwei Hüte, fünf Basecaps, vier Sonnenbrillen, ein Schränkchen mit Medizin, in einem Regal sind DVDs, Taschenlampen, Fotos von Harry Neumanns Neffen und Eltern.
So lange wie er lebt sonst niemand im Berberdorf. Er ist gleichzeitig Vergangenheit und Zukunft seiner Nachbarn. Als Harry Neumann auf der Straße lebte, sei Alkohol kein großes Problem gewesen. Vor allem Bier habe er getrunken. „Der Absturz kam erst hier“, sagt er. Hier, im Berberdorf, weg von der Straße, aber auch noch weit davon entfernt, ein normales Leben in den eigenen vier Wänden zu führen. „Ich weiß gar nicht genau, warum ich das Saufen angefangen habe.“ Harry Neumann überlegt. „Alle hier saufen.“ Manni nickt. Eigentlich sind harter Alkohol und Drogen im Berberdorf verboten. Aber das können Betreuer, die um 10 Uhr kommen und um 16 Uhr wieder gehen, nicht kontrollieren. Eine Wohnung unter diesen Umständen zu finden ist nicht leicht. Überall hat Harry Neumann Steckbriefe verteilt, in jedem Supermarkt, in jeder Bank, an jedem Pfahl: „Wir suchen eine Wohnung. Wir hoffen, dass es auch noch Tierfreunde unter den Vermietern gibt. Wenn’s geht, mit Terrasse, wo ich auch mal draußen sitzen kann mit Gero!“ Darunter ein Foto von Harry Neumann mit Lederhut und seinem schwarzen Hund Gero.
Angerufen habe kaum jemand. Wenn, dann waren die Wohnungen zu teuer. Einmal habe er eine Dachgeschosswohnung haben können. „Wie hätte ich denn da hochkommen sollen mit meinen Gehproblemen?“
Am Ende will Harry Neumann drei Flaschen Wodka am Tag getrunken haben. „Da wurde Gero zu schnell für mich“, erzählt der Friese. „Nur habe ich das viel zu spät kapiert. Wenn du morgens aufstehst und dir als Erstes’nen Klaren reinkippst, um dich wieder stabil zu trinken, merkst du gar nicht, dass du eigentlich gar nicht mehr laufen kannst.“
Vier Entgiftungen hat Harry Neumann in sieben Jahren Berberdorf hinter sich. „Laufen werden Sie nie mehr können“, hatte der Arzt gesagt. Und ein anderer: „Das nächste Weihnachten werden Sie nicht mehr erleben.“ Zwei Jahre ist das her.
Er hat es tatsächlich geschafft, Harry Neumann ist trocken – und findet dennoch keine Wohnung. „Wenn ich irgendwo anrufe und gefragt werde, wo ich aktuell wohne, heißt es immer, nee, die Wohnung ist schon vergeben. Oder: Ich hatte schon mal jemanden aus dem Berberdorf, der hat mir die ganze Wohnung verhunzt.“ Harry Neumann sagt dann, nein, ich bin sauber, meine Hütte ist immer aufgeräumt, Sie können kommen und gucken, jederzeit.
Gekommen ist nie jemand.
Vor ein paar Monaten hat sich Harry Neumann im Internet auf einer Immobilienseite registriert. Er holt sein Handy aus der Brusttasche und fährt mit den Fingern über das Display. Harry Neumann hat das Nötigste eingetragen: Wohnung bis zu zwei Zimmer, Kaltmiete maximal 425 Euro, Nebenkosten 150 Euro, plus minus fünf Kilometer. „Keine aktuellen Angebote“, liest Harry Neumann vor und steckt das Handy zurück.
Er will es nun auch über Rosi probieren, eine Bekannte, die nicht im Berberdorf wohnt. Sie soll für Harry Neumann eine Anzeige schalten. „Ich will meine Adresse von hier nicht mehr angeben.“ Harry Neumann hat sich ein Limit gesetzt. „Wenn ich bis Ende dieses Jahres keine Wohnung finde, gebe ich auf.“
Zwanzig Meter weiter, in einem weißen Container am Eingang der Siedlung, sitzt eine Frau mit grau meliertem, welligem Haar an einem Schreibtisch und telefoniert, macht sich Notizen, den Telefonhörer immer zwischen rechtem Ohr und Schulter eingeklemmt. Eigentlich sollte sie Harry Neumann helfen können, eine Wohnung zu finden. Als Leiterin des Berberdorfs ist Anja Wessels dafür verantwortlich, ihren Schützlingen in die bürgerliche Welt zurückzuhelfen. Seit Harry Neumann trocken ist, reicht sie ihm auch regelmäßig Zeitungsannoncen weiter. Doch bisher vergebens.
Die Zahl der Sozialwohnungen in Deutschland ist erheblich gesunken. 2017 gab es nur noch 1,2 Millionen Wohnungen mit Mietpreisbindung – viel zu wenige, um Menschen wie Harry Neumann eine Bleibe besorgen zu können. Denn eine normale Mietwohnung kann er sich nicht leisten. Die Mieten steigen und steigen, laut Angaben der Bundesregierung um durchschnittlich 3 Prozent im Jahr seit 2013.
„In Ordnung, Montag geht klar, bis dann.“ Wessels stellt das Telefon zurück in die Ladeschale, atmet tief durch. In drei Tagen wird ein Neuzugang in die letzte Hütte des Berberdorfs ziehen. „Wir bekommen immer mehr Menschen aus der Mittelschicht, solche, die gar nicht lange obdachlos waren und die ein größeres Bündel an Problemen mitbringen, wie Sucht und Überschuldung“, sagt Wessels. „Eine Suchtvergangenheit schreckt potenzielle Vermieter ab.“ Sie geht raus vor ihren Container und zündet sich eine Zigarette an. „Ich halte nicht viel vom gängigen Stufensystem in Deutschland“, sagt sie und schildert den komplizierten Ablauf: Erst landeten Obdachlose in der Notunterkunft, dann geht’s ins Aufnahmehaus, dann komme vielleicht irgendwann die Übergangswohnung oder das Wohnheim, dann die Trainingswohnung. Der Wohnungslose soll langsam an das normale Wohnen herangeführt werden, „mitwirken“, wie es im Amtsdeutsch heißt, indem er eine Therapie macht, um von der Alkohol- oder Drogensucht wegzukommen. „Viele schaffen das aber nicht“, sagt Wessels. „Sie erleben in dem Prozess Stress und Frust, weil so wenig vorangeht, und verfallen dann erst recht der Sucht. Ich würde mir in Deutschland ein ‚Housing First‘-Konzept wie in Finnland oder Belgien wünschen.“
„Ich bin noch nicht so gut im Aufräumen“, sagt Michel Dewulf
Brüssel im Sommer, das Thermometer zeigt 31 Grad Celsius. Michel Dewulf schaut fragend auf das Gerät vor seiner Wohnungstür, das ihm jemand hingestellt hat. Ein schmaler Korpus mit einem Stecker dran und ein paar „Plus“- und „Minus“-Knöpfen. „Eine Klimaanlage“, vermutet er, trägt das Ding in seine Wohnung und will es wegräumen, was nicht einfach ist, weil alles zugestellt ist: Tüten und Kisten unter dem Tisch, Klappstühle an der Wand, ein riesiger Eisbär aus Plüsch bewacht den schmalen Flur. „Ich bin noch nicht so gut im Aufräumen“, sagt Michel Dewulf. „Das muss ich noch lernen.“
30 Quadratmeter, ein großes Bett unter dem Fenster, daneben eine durchgesessene Couch, gegenüber ein Kleiderschrank, aus dem kaputte Schubladen hängen, eine Küchenzeile, die lange nicht mehr geputzt wurde, und ein Bad, wo das Klo gerade verstopft ist, weshalb Michel Dewulf bei den Nachbarn klingelt, wenn er auf Toilette muss. „Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt“, sagt Michel Dewulf. „Ich werde alles tun, um diese Wohnung behalten zu können.“
In Michel Dewulfs Kleiderschrank hängt nur eine rote Steppjacke. Elf Jahre trug er sie auf Brüssels Straßen, sie ist die einzige Erinnerung an damals. Und die kleine Plastikdose, die Michel Dewulf aus der Innentasche hervorholt. „Das war meine Klimperdose.“
Wenn er von seiner Vergangenheit erzählt, macht er mit seinem zappeligen Körper einen buckligen Rücken und beugt sich über den verglasten Couchtisch. Bier neben einem Tabakbeutel. Früher trank Michel Dewulf bis zu vierzig Dosen am Tag. Starkbier, Alkoholgehalt bis zu 14 Prozent. Heute sind es fünf bis zehn Dosen leichtes Jupiler Pils. Zwischen den Aschekrümeln liegt eine Tüte Fruchtgummi. Wenn Michel Dewulf isst, dann höchstens in Form einer kleinen Portion Zucker. Mehr als 20 Kilo hat er seit Anfang des Jahres verloren. Obwohl er es immer wieder versucht, will keine Mahlzeit im Magen bleiben.
An seinem 18. Geburtstag stand die Mutter mit einem gepackten Koffer in der Tür. Doch nicht etwa sie will die Familie verlassen, ihr Sohn soll gehen. „Ich war ein ungewolltes Kind“, sagt Michel Dewulf lapidar. Die Brüsseler Börse wurde Michel Dewulfs neues Zuhause, der Platz, an dem die meisten Touristen herumlaufen: Selfies machen auf dem Großen Markt, feinste belgische Schokolade kaufen, frische Waffeln mit Maronencreme. Dazwischen Michel Dewulf im Kampf um Essen und Alkohol, der in bewaffneten Raubüberfällen und zwei Mordversuchen endet.
2015 kommt er mit zwei Plastiktüten aus dem Gefängnis. 11 Jahre draußen und 15 Jahre drinnen liegen hinter ihm. „Viel Glück“, hatte ihm der Pförtner mit einem Händedruck gewünscht. Michel Dewulf geht zum nächsten Supermarkt und kauft sich eine Flasche Whiskey.
Wenige Monate später wacht er im Krankenhaus auf. Er hatte am Straßenrand gelegen, blutüberströmt, das lange Messer noch in der Hand. Die Arme aufgeschlitzt. Der Bauch auch. Als Michel Dewulf wieder zu Kräften kommt, packt er den Arzt am Arm und sieht ihn vorwurfsvoll an: „Warum haben Sie mich nicht sterben lassen?“
Eines Tages steht eine Sozialarbeiterin an seinem Spitalbett. Sie kennen sich schon lange. Weil Michel Dewulf nicht an seinem Stammplatz an der Börse anzutreffen war, erkundigte sie sich bei anderen Obdachlosen nach ihm. Zwischen Beatmungsgeräten und weißen Kitteln sehen sie sich nun wieder. Sie gibt ihm, Michel Dewulf, einem Ex-Knasti, Säufer und Obdachlosen, der sich eben noch gewünscht hatte, tot zu sein, den Schlüssel zu seiner ersten Wohnung. Das war vor neun Monaten.
„Als ich die Tür aufgeschlossen habe, habe ich geweint.“ Hier kann er schlafen, ohne Angst zu haben, dass ihm jemand etwas klaut. Hier kann er sich waschen, ohne dafür anstehen zu müssen. Hier kann er sich Essen zubereiten, das er oft mit Gästen teilt. Und er ist in seinem Wohnblock umgeben von Durchschnittsbürgern, für die ein geregeltes Leben normal ist, Angestellte, Rentner. Eine soziale Immobilienagentur hat ihm die Wohnung beschafft. Er bezahlt 30 Prozent weniger als auf dem normalen Wohnungsmarkt, 500 Euro, die er durch seine Invalidenrente abdeckt. Außerdem bekommt er vom Staat jede Woche 80 Euro zum Leben.
Der Fußboden ist mit Farbklecksen übersät. Michel Dewulf hat angefangen zu malen, unter der roten Jacke im Schrank stehen ein Dutzend Leinwände. Michel Dewulf holt ein Bild hervor, ein Farbenmeer aus violetten, blauen und grünen Pinselstrichen, darüber hat er Glitzer gestreut. „Das ist ein Hund, erkennt man, oder?“ Michel Dewulf dreht das Bild um. „Nun kann man einen Menschen erkennen, hier die Nase.“ Immer weiter holt er Bilder aus seinem Schrank. Neulich habe ihm jemand 200 Euro für ein Bild gezahlt. „Ja“, sagt er, „ich habe wieder Lust, zu leben.“
Auf dem Weg zur Metrostation läuft Michel Dewulf an einem jungen Mann vorbei, der auf seinem Schlafsack vor einem Elektroladen kauert. „Salut, Christophe, alles klar, hast du Hunger?“ – „Ich will ein Bier“ ist die Antwort. „Ah, nein, damit kann ich nicht dienen, mein Freund.“ Michel Dewulf geht weiter: Im Brüsseler Stadtkern thront König Leopold II. vor dem royalen königlichen Palast auf einem Sockel, ein paar Meter weiter steht Michel Dewulf vor dem „Baum zum Gedenken an die Toten auf der Straße“ und liest die Namen auf den Papierschnipseln, die am Baumstamm angebracht sind. „Letzte Nacht ist Brigitte gestorben“, ruft ein Mann Michel Dewulf zu.
„Die Blonde?“, fragt Michel Dewulf.
„Ja, die hing hier immer rum.“
„Warum ist sie gestorben?“
„Was glaubst du?“
„Ah, ja, die Drogen.“
„Die wollen einen zweiten Baum in der Stadt aufstellen“, sagt der Mann.
Michel Dewulf lässt seine Bierbüchse aufploppen und schüttet ein paar Tropfen an den Baum. „Die ersten Tropfen sind immer für die, die auf der Straße gestorben sind“, sagt Michel Dewulf.
Ein paar Tage später trifft er eine Entscheidung: „Ich hör auf mit dem Trinken. Ich will meine Medikamente nehmen.“ Die Schlafmittel und Antidepressiva liegen noch unangebrochen in Michel Dewulfs Badezimmer. „Und eigentlich müsste ich auch zum Arzt. Ich muss essen.“
Im Berberdorf in Esslingen sitzt Harry Neumann mit einem Nachbarn vor seiner Hütte. Stumm trinkt der andere seine Dose Bier. Harry Neumann raucht. „Bis heute Morgen um sieben hatte ich keine Ruhe, ständig klopfte einer und wollte Bier“, sagt der Nachbar. „Wenigstens musste ich nicht wieder die Bullen rufen“, kontert Harry Neumann. Bis zu viermal im Monat meldet sich Harry Neumann bei der Polizei, weil jemand ausgetickt ist. Seine Nummer kennen sie schon.
Michel Dewulf hat schließlich eine Entziehungskur gemacht und ist seit Mai trocken. Er engagiert sich in Vereinen, die auf die Situation von Obdachlosen in der Öffentlichkeit aufmerksam machen. Architekturstudenten entwickeln mit seiner Hilfe mobile Häuschen für Obdachlose.
Anja Wessels hat das Berberdorf als Leiterin mittlerweile verlassen. Auch eine andere Kollegin ist gegangen. Aktuell muss ein einziger Mitarbeiter das Berberdorf managen. „Die Arbeit hier schreckt die Leute ab“, sagt er. Harry Neumann lebt immer noch dort.
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