Marzipan aus Lübeck: Die Freuden des Paradieses
Lübecker Marzipan muss aus Lübeck kommen. Gerade mal sechs Firmen stellen es heute her. Einst war Marzipan eine Luxusleckerei.
Wenn die Sommersonne so richtig vom Himmel knallt, beginnt in Lübeck Weihnachten. Bereits im August setzt bei Niederegger, dem bekanntesten Marzipanproduzenten, die Produktion der Weihnachtsartikel ein. Zu den 500 Festangestellten kommen dann 200 Saisonkräfte. Während draußen Kinder durch die Freibäder toben, dröhnen in der heißen Produktionshalle die Röstkessel. Denn ob Glücksschwein, Seehund oder Minikartoffel – am Anfang jeder Marzipanfigur steht die Rohmasse. Und die besteht vor allem aus Zucker und Mandeln.
Den Arbeitsreigen eröffnet die Brühmaschine. Sie besprüht die Mandeln mit Wasserdampf und rüttelt sie, bis die Häutchen abfallen. Wie ein weißer Strom laufen sie nun über ein Förderband zur Mischwaage. Dort werden Zucker, Mandeln, Wasser und Sirup zusammengeschüttet und erst in einen Zerhacker, dann durch eine Grob- und eine Feinwalze gefahren.
Es folgt der Röstvorgang: Jeweils 100 Kilo der körnigen Masse werden in einem rotierenden Kessel bei 90 Grad geröstet – so lange, bis die Zuckerkristalle geschmolzen sind. Jetzt fügt jemand das „süße Geheimnis“ hinzu, jene seit Generationen überlieferte geheimnisvolle Ingredienz, die Niederegger-Marzipan angeblich so unverwechselbar macht. Man munkelt von Rosenöl und Honigseim oder auch von einem schon sehr alten Werbetrick …
Männer in weißen T-Shirts schaufeln den festen, hellen Brei in Behälter und kippen ihn in die zwei Wannen der Kühlanlage. Mit Trockeneis wird seine Temperatur von 90 auf 60 Grad gesenkt. Fertig ist die Rohmasse, von der an Spitzentagen bis zu 15 Tonnen entstehen.
Marzipan kann sich vieles nennen. Marzipanrohmasse besteht aus bis zu zwei Dritteln Mandeln und bis zu 35 Prozent Zucker. Wer „Lübecker Edelmarzipan“ produzieren will, darf zur Rohmasse noch einmal 10 Prozent Zucker hinzufügen. Gibt er sich mit „Lübecker Marzipan“ zufrieden, dürfen es sogar 30 Prozent sein.
Geschminkt wird per Hand
In 15-Kilo-Blöcken kommt das Marzipan in die Lagerhallen. Dort wird es maschinell zu Broten oder Riegeln geformt, mit Schokolade überzogen und verpackt. Besondere Stücke stellen die Mitarbeiterinnen auch heute noch von Hand her. Im oberen Stockwerk sitzen fünf Frauen um einen Tisch und klopfen Weihnachtsmänner, Holstentore und Hamburger Rathäuser aus Reliefformen. Die sind nun nicht etwa fertig, sondern müssen noch „geschminkt“ werden. Kolleginnen, vor denen Tellerchen voll Farbe stehen, tragen mit Pinseln Lebensmittelfarbe auf: Augenbrauen und Mund, Mütze, Mantel und Sack.
Erfunden haben die Lübecker das Marzipan freilich nicht. Es entstand auch nicht, wie die Legende es will, während einer Belagerung, als in höchster Not auf einem gottvergessenen Speicher ausgerechnet noch ein paar Säcke Mandeln und Zucker entdeckt wurden …
Niederegger hat es geschafft, dass sein Name inzwischen fast als Synonym für Marzipan gilt. Im Stammhaus in der Breiten Straße 89 gibt es ein traditionelles Cafe sowie einen Marzipansalon. In Vitrinen stehen historische Model aus Schwefel und auf zwölf Bildtafeln erzählt Johann Georg Niederegger, der im Jahre 1800 aus Ulm nach Lübeck kam und bald darauf die Firma gründete, die Geschichte des Marzipans. Infos: www.niederegger.de
Marzipanland: Burkhard Leu verkauft in seinen vier Speichern nicht nur Lübecker und Königsberger Marzipan, sondern auch Seife, Nudeln oder Eierlikör mit Marzipan. Ein kleines Marzipanmuseum ist zu besichtigen, und wer will, kann einen Marzipan-Kurs und das M-Abitur machen. An der Untertrave 97-98. Infos: www.marzipanland.de
Mest vertreibt seine Ware im Ladengeschäft in der Mühlenstr. 39, einen Fabrikverkauf gibt es in der Taschenmacherstr. 37, Infos: www.mest.de
Lubs vertreibt seine Bioprodukte über seinen Internet-Shop und den Fachhandel, www.lubs.de.de
Carstens liefert seine Produkte vor allem an den Handel, www-carstens-marzipan.de
Lubeca beliefert die Süß- und Backwarenindustrie, Infos: www.lubeca-marzipan.de
Geschützte Marke: Genaueres zur Verwendung der Bezeichnung "Lübecker Marzipan" findet sich auf den Webseiten des Lübecker Marzipanvereins
Erstmals zusammengeknetet hat die Substanz ein unbekanntes Süßmaul im Vorderen Orient – aus Mandeln, Rosenwasser und Zucker. Von Venedig, der Drehscheibe für die Schätze des Morgenlands, brachten Kaufleute erste Kostproben ins restliche Europa.
Auch der Name stammt aus dem Mittelmeerraum. „Matzapanen“ hießen die Schachteln, in denen kandierte Früchte aus dem Orient geliefert wurden, den Inhalt nannte man bald „Mazaban“.
Ein seltener, ein teurer Stoff war dieses „Haremskonfekt“, wie Thomas Mann es später nannte. Ein Stoff, der diejenigen, die ihn zum ersten Mal kosteten, irgendwie an die Freuden des Paradieses gemahnte. Schon bald galt Marzipan als Aphrodisiakum, eine Art mittelalterliches Viagra, wenn auch wohl ohne entsprechende Wirkung. Dann als Kraftnahrung. Schließlich als Herzmittel. Nur Apotheker und Klöster durften Marzipan herstellen. Eine Luxusleckerei, nach der sich Fürsten und Könige bald die Finger leckten.
Marzipansarg auf der Torte
Die Gourmets mit den großen Portemonnaies konnten sich das nicht entgehen lassen. Schon bald zierten Marzipanschwäne und Marzipanrosse die Hochzeitstafeln der Fürsten und Kaiser. Päpste nahmen huldvoll Marzipanbrote entgegen, und bei so manchem Leichenschmaus erinnerte ein Marzipansarg auf der Torte an den Verblichenen.
Bei so viel adliger Naschsucht wollten auch die Bürger nicht zurückstehen: mehr Marzipan – für alle, die es bezahlen können. Die Obrigkeit, in ihrer grenzenlosen Fürsorge für das Volk, sah es mit Grausen: welche Verschwendung! All dieser Neid erweckende Luxus! In vielen Städten Europas versuchte sie, per Dekret den hemmungslosen Verbrauch einzuschränken. Und Venedig verbot ausdrücklich das Vergolden von Marzipanfiguren.
Ein teurer Stoff blieb es viele Jahrhunderte lang. Bis man Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckte: Es muss nicht Rohr sein, auch aus Rüben lässt sich Zucker sieden. Und plötzlich kamen Standortvorteile zum Tragen: Orte mit Hafen und großem Hinterland, Zuckerrübenhinterland, machten Punkte. Städte wie Königsberg an der ostpreußischen Küste. Oder wie Lübeck am Rande Mecklenburgs etwa.
Der allmählich einsetzende Handel mit Amerika machte Zucker billiger. In Frankreich entstand ein neuer Beruf: der Zuckerbäcker. Einige dieser „Canditoren“ wanderten nach Deutschland aus, an die Höfe. Kneteten Konfekt. Zogen Zucker. Modellierten Marzipan.
Erste Marzipanfabriken
Mitte des 19. Jahrhunderts fielen die Zunftschranken, Walz- und Mandelreibmaschinen kamen auf, erste Marzipanfabriken, kleine Klitschen, entstanden. Kalorien galten noch nicht als Verkaufshindernis: „Seht den dicken Herrn Magister, warum ist er wohl so dick? Marzipan in Mengen isst er, aus der Marzipanfabrik.“
Heute stellen in Lübeck sechs Firmen Marzipan her – Lübecker Marzipan. Denn nur was direkt aus der Hansestadt kommt, darf sich auch so nennen. Seine Liebhaber aber trennen sich in zwei Fraktionen. Die eine schwört vehement auf den puren Stoff: Nur das einfache Marzipanbrot mit seinem saftigen, körnigen Inneren und dem Mantel aus zartbitterer Schokolade komme infrage. Unnachahmlich verbinde sich sein leicht erdiger Mandelgeschmack mit dem zarten Schmelz und der bittersüßen Note der Schokolade.
Den anderen dagegen kann es gar nicht abwechslungsreich genug sein: Ob Ananas, Dattelhonig, Rum, Mokka, Kirsch – gerade die Tatsache, dass Marzipan sich so hervorragend mit einer Vielzahl von Aromen verbinde, mache ja erst seinen Reiz aus. Die unmaßgebliche Einschätzung des Autors: das eine lieben, das andere nicht lassen.
Angeblich liebte und liebt die ganze Welt Lübecker Marzipan. Doch es gab eine Ausnahme. Ein früher Gastrokritiker aus Chicago befand im Jahre 1895: „Marzipan, durch den Lübeck berühmt ist, ist die unverdaulichste Substanz, die ich kenne, ausgenommen Glaserkitt und Bahnhofsbutterbrot.“
Der Gute – er hat tauben Ohren gepredigt. Längst ist die „Substanz“ auch bei seinen Nachkommen ein Renner.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Klimakiller Landwirtschaft
Immer weniger Schweine und Rinder in Deutschland