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„Bremen muss mehr Utopien wagen“

Lässt sich mit dem Ergebnis der Bürgerschaftswahl mehr anfangen, als um den Posten zu pokern? Ja, sagt Ralf Lorenzen, der mit Helmut Hafner und Alexander Hauer den Salon im Volkshaus organisiert: Mit mehr Nachwahl-Fantasy können wir politische Rituale überwinden

Fotos: Handout/Sky/dpa, Carmen Jaspersen, Mohssen Assanimoghaddam, dpa, Montage: Claudia Benders, taz

Interview Benno Schirrmeister

taz: Herr Lorenzen, bei „Game of Thrones“ war immer die spannende Frage: Wen erwischt’s als nächsten – und wie erfolgt die Tötung. Bricht Ihr Salon das jetzt runter auf Bremen?

Ralf Lorenzen: Das war nicht die Intention, nein. In Bremen geht’s ja eher darum, wer als nächstes ins Rathaus einziehen darf. Es winkt also eher eine Belohnung oder ein Erfolg, als der Tod.

Aber bis zur Neubesetzung des Wolfsthrons herrscht Hauen und Stechen in den Parteien …

Man hat sehr den Eindruck, dass es dort vielen im Moment darum geht, die eigenen Pfründe zu sichern, es hängen Karrieren davon ab, persönliche Existenzen. Davon müssen sie wegkommen, denn: Die jetzigen Protestbewegungen werden sich damit nicht so schnell einbinden und ruhig stellen lassen. Wenn sie darauf nicht angemessen reagieren, wird ihre Bedeutung noch weiter zurückgehen.

Aktuell wirken die personellen Auseinandersetzungen im Hintergrund trotzdem vielleicht leiser als im Fantasy und unblutiger, aber schmerzhaft.

Ja, selbstverständlich. Und es gibt vom Publikum auch eine gewisse Lust daran, zu personalisieren und diese Streitigkeiten und Intrigen zu rezipieren. Da möchte ich mich gar nicht ausschließen. Alle können sich auf einmal mit Andrea Nahles als tragische Figur identifizieren. Ich finde, da können wir auch in der Art, über Politik zu reden, viel von Fridays for Future (FFF) lernen.

Was meinen Sie?

Game of Thrones – ein Nachwahlfantasy-Salon mit besonderen Gästen: 19 Uhr, Theater im Volkshaus, Hans-Böckler-Str. 9

Als vergangenes Wochenende bei Anne Will über Klimaschutz diskutiert werden sollte und der Nahles-Rücktritt dazwischen funkte, war die FFF-Vertreterin Luisa Neubauer ja dabei. Aber die wollte über ihre Sache reden. Die hat sich auf diese Personaldebatte gar nicht eingelassen, über die sich die anderen Gäste der Sendung die Köpfe heiß geredet haben.

Bloß sind Personalien nicht wahlentscheidend? Warum holt denn ein Typ wie Carsten Sieling, den man eher als Grauen Wurm casten würde, so wenig Stimmen, obwohl er so sachlich Politik arbeitet?

Welche Rolle das fehlende Charisma spielt bei einem Wahlergebnis, ist schwer zu sagen. Damit lassen sich jedenfalls inhaltliche Fragen immer gut wegschieben. Die Grünen surfen in Bremen ja auch nicht auf der gleichen Charisma-Welle, wie die Bundespartei – und haben trotzdem ein gutes Wahlergebnis eingefahren. Andererseits, ja, ich habe mich selbst auch bei dem einen oder anderen Sieling-Auftritt dabei ertappt, wie ich gedacht habe: Ach, da fehlt jetzt aber doch die Performance. Und habe mich dann gefragt: Kann das nicht – egal wie man politisch denkt – genau ein Qualitätsmerkmal sein, dass jemand ein nüchterner Sachpolitiker ist, vertrauensvoll und fleißig? Stattdessen scheint das eher als Manko wahrgenommen zu werden.

Da kommen wir zu unserer eigenen Rolle: Wie können die Medien ihren Beitrag zu diesem Spektakeleffekt verringern?

Wir spielen da mit. Wir reagieren auf diese Primärreize, auf den Knall und auf markante Figuren, weil sie sich leichter erzählen lassen, als politische Prozesse. Für die es nötig ist, sich erst richtig fachkundig zu machen, und dann muss man sie auch noch so gestalten, dass sie spannend werden. Das ist viel mehr Arbeit, als eine Geschichte mit menschlichen Schicksalen zu produzieren.

Der Nachwahlfantasy-Salon soll ja, anders als die TV-Serie, genau davon wegführen. Bloß wohin?

„Wir reagieren auf Primärreize und markante Figuren, weil sie sich leichter erzählen lassen, als politische Prozesse“

Ich habe den Eindruck, dass im Moment ein Ruck durch viele Institutionen geht. Es gibt dieses Gefühl: Okay, es muss ja wohl jetzt mal etwas grundsätzliches passieren. Bloß: Dieses Grundsätzliche kommt noch eher wie ein heißer Brei daher, von dem alle noch unsicher sind, was das denn sein könnte, was sich denn ändern müsste, und um den sie daher etwas verstört herumlaufen.

Sie gerade auch …?!

Ja, klar, ich auch: Ich will ja dem Salon nicht vorgreifen.

Aha!

Persönlich glaube ich, dass wir uns wieder stärker mit Fragen beschäftigen müssen, wie sich eine Ökonomie weiter entwickeln kann – eine Ökonomie, die sich ökologischen und sozialen Zielen verpflichtet. Es glauben ja immer noch viele, Klimaschutz könnte ein Geschäftsmodell sein – und wäre mit Wachstumszwang und Profitorientierung vereinbar. Das Bewusstsein, dass dem nicht so ist, wird breiter werden – aber parallel dazu müssen Räume entstehen, darüber nachzudenken, was an diese Stelle treten kann.

Foto: privat

Ralf Lorenzen, 60, Freier Autor und Journalist.

Also soll Bremen mehr Utopie wagen?

Ja. Bremen muss natürlich mehr Utopien wagen. Das visionäre Denken, das auch in politischen Diskussionen früher selbstverständlich war, haben wir vollkommen verlernt. Diesen Raum müssen wir uns wieder erschließen. Das ist viel wichtiger, viel existenzieller, als die Frage, ob FDP, Grüne und CDU oder Rot, Rot und Grün zusammen regieren sollen, was die Landesmitgliederversammlung der Grünen heute Abend beschließt.

Und dieser Raum ist der Salon?

Der Salon kann einen Schritt dorthin versuchen, den Impuls der neuen Jugendbewegungen in andere Bereiche zu tragen: Weg von den politischen Ritualen und intellektuellen Selbstbeschränkungen hin zu wirklichen Veränderungen.

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