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Leben in AmerikasRuine

Wie man in einer ehemaligen Industrie­metropole kulturelles Potenzial wecken kann. Gerade in Trump-Zeiten sind Beispiele wie Detroit wichtig

Von Jens Uthoff

Larry M. Gant steht auf einem Fleckchen Rasen vor der ehema­ligen Michigan Central Station und weist mit dem Finger auf das siebzig Meter hohe Bauwerk, das als Solitär in den Himmel von Detroit ragt. „Sehen Sie“, sagt Gant gestikulierend, „es wurden überall neue Fenster eingesetzt, die Bauarbeiten haben begonnen. Und der Rasen hier ist gemäht, die Stadt kümmert sich wieder um diese Gegend. Für mich ein Zeichen, dass Detroit wieder im Kommen ist.“

Gant, ein Afroamerikaner mit breitem Lächeln, Typ Enter­tainer, lila T-Shirt unter weißem Sakko, ist Professor an der University of Michigan und Experte für Stadtentwicklung; hinter ihm befindet sich einer der symbolträchtigsten Orte, den Detroit zu bieten hat. Der über hundert Jahre alte Bahnhof, seit 1988 endgültig stillgelegt, war zuletzt Sinnbild des Niedergangs der ehemaligen Indus­trie­metropole im Mittleren Westen. Noch 1990 hatte die Stadt über 1 Million Einwohner, heute sind es nur noch 673.000. Überall standen Gebäude leer, Detroit war Amerikas größte Ruine. „Die Leute kamen hierher, um der Vergangenheit zu huldigen“, sagt der 62-Jährige, „nun aber steht der Bau für die Wiedergeburt.“

Denn jetzt passiert etwas. Ford errichtet an dieser Stelle den Corktown Campus, benannt nach dem Stadtteil, in dem er entsteht. Ausgerechnet die Firma also, die Detroit Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Überholspur gebracht hat. Auf dem 111.000 Quadratmeter großen Gelände soll an der Mobilität der Zukunft gebastelt werden. 2022 soll die Zukunftsautowerkstatt eröffnet werden, 5.000 Menschen sollen dann hier arbeiten. Bereits jetzt sind Teile des Unternehmensbereichs für autonomes Fahren in der Nähe angesiedelt. Denn schon in zwei Jahren will Ford selbstfahrende Autos vorstellen, die man sich wie ein Uber per App kommen lassen kann.

Die Taxiroboter von morgen sind aber nur ein Beispiel. De­troit sucht nach einer neuen Erzählung, die Stadt schraubt an ihrem Comeback. Auch in der Kreativwirtschaft. Denn Detroit ist nicht nur Motor City, sondern auch Music City: John Lee Hooker, Aretha Franklin und Madonna wuchsen am Detroit River auf. In Detroit hatte das Label Motown seinen Sitz, in den Achtzigern nahm hier mit Produzenten wie Juan Atkins (Model 500) und Gruppen wie Underground Resistance Techno seine Anfänge – um später in Berlin durch die Decke zu gehen. Auch Punk (The Stooges) und HipHop (Eminem, J Dilla) ist in Detroits DNA. Und Jack White, noch so ein Sohn der Stadt, hat vor drei Jahren das Presswerk und den Plattenladen Third Man Records in seiner Heimatstadt eröffnet. Ein enormes kulturelles Erbe also. Aber wie wird es in die nächsten Generationen weitergetragen?

In der Tangent Gallery, einem dunklen Off-Space im nördlichen Stadtzentrum, steht Natasha Miller (alias T Miller) auf der Bühne. Mit beeindruckendem Flow trägt die afroamerikanische Slam-Poetry-Künstlerin eine Liebeserklärung an ihre Heimatstadt vor. „To the people / who don’t know which Detroit to believe / It’s a complicated story / with more semicolons than periods // it’s broken, but it works / and it lives, and it builds / And it’s ours“, liest Miller den Abschluss ihres Langgedichts; rund 150 Menschen, darunter viele Schwarze wie sie, applaudieren. Rufen „Yo!“, „Yes!“ und „Yeah!“.

T Miller eröffnet mit ihrem Auftritt an einem Dienstagnachmittag Ende Mai die Konferenz „The Potential“. Initiiert wurde das Treffen von der Kulturinitiative Detroit-Berlin-Connection (DBC). Die DBC gründete sich 2013, in ihr haben sich wichtige Akteure der Clubszenen beider Städte – darunter Dimitri Hegemann, Gründer des Berliner Clubs Tresor, und der Detroiter Musikjournalist Walter Wasacz – zusammengeschlossen. Zum sechsten Mal findet die Konferenz statt.

Music-City: John Lee Hooker, Aretha Franklin, Madonna, Stevie Wonder – sie alle wuchsen am Detroit River auf

In diesem Jahr wird sie vom Goethe-Institut unterstützt, das derzeit das Deutschlandjahr 2018/19 in den USA ausrichtet – ein Kulturaustauschjahr mit rund 1.500 Veranstaltungen in allen 50 US-Bundesstaaten, mehrere davon in Detroit. „Es war für uns auch eine taktische und perspektivische Überlegung, nach Detroit zu gehen“, erklärt Christoph Mücher, Direktor des Deutschlandjahrs, „weil dieser Ort im Moment besonders spannend ist.“ Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts, der ebenfalls die Konferenz und einige andere Veranstaltungen besucht, sagt, es sei ihnen „ein besonderes Anliegen, nicht nur in die Metropolen wie New York oder Los Angeles an der West- und Ostküste zu gehen, sondern auch in den kleineren Städten und im Mittleren Westen präsent zu sein“.

Den Slogan des Deutschlandjahrs – „Wunderbar Together“ – könnte man angesichts der transatlantischen Beziehungen in Zeiten Trumps fast ironisch lesen, wüsste man nicht mehr darüber. Ebert aber erklärt, man habe den Claim bewusst so optimistisch gewählt: „Viele Menschen in beiden Ländern fühlen sich einander unverändert stark verbunden. Diese bestehenden guten Beziehungen zwischen Deutschland und den USA in der Zivilgesellschaft wollen wir stärken. Das ist uns gerade angesichts der gesellschaftlichen Situation und des derzeit politisch nicht immer spannungsfreien Verhältnisses beider Länder wichtig“, sagt er.

Auch Berlin und Detroit verbindet sehr viel, weit mehr als nur die Techno-Liaison der Neunziger. Der Vibe beider Städte ist ähnlich. Die Freaks und Outlaws halten hier wie dort die Subkultur lebendig. Für Unterhaltung während der Konferenz sorgt etwa Onyx Ashanti, der vor einigen Jahren von Berlin wieder nach Detroit rübergemacht hat. Er trägt am ganzen Körper Sensoren, wie man sie so ähnlich vom EKG kennt. Über diese ist er mit einem Verstärker und einem Lautsprecher verbunden; mit jeder Bewegung, jeder Geste, jeder Zuckung kann er Musik machen. Auf dem Podium sitzt Zac Bru, ein fülliger Weißer mit hüftlangem Haar, der sich mit den Worten „I’m a weirdo“ vorstellt und vor drei Jahren das Detroit Bureau of Sound ins Leben rief, eine Plattform für experimentelle Musik. Durch die Reihen huscht immer wieder Marsha Battle Philpot alias Marsha Music, eine auffällige Erscheinung in weitem schwarzen Kleid und mit viel Schmuck am Körper – sie ist Schriftstellerin, hat an Filmprojekten mitgewirkt und hält die afroamerikanische Griot-Tradition hoch.

Im Stadtbild Detroits ist dagegen Outsider Art sehr präsent: Mit „The Heidelberg Project“ gibt es eine ganzes kleines Viertel mit Installationen aus Weggeworfenem und bunt angepinselten Häusern. Street Art ist ebenfalls groß in der Stadt, auf einem Gebäude in Downtown prangt neuerdings ein riesengroßer, Klavier spielender Stevie Wonder. Auch er ein Detroiter.

Gerade Downtown und der engere Stadtkern, wo in jüngster Zeit zahlreiche Gebäude hochgezogen wurden, steht für den Aufbruch Detroits. Aber die Gegend zeigt auch, wie fragil er ist: Am Wochenabend sind die Straßen gespenstisch leer, viele Obdachlose, fast alle schwarz, fragen nach Geld. Eine besondere Stimmung herrscht dann, wenn die Detroit Tigers im Stadion direkt im Zentrum ein Baseballheimspiel haben. Alles strömt stolz mit den signifikanten „D“-Käppis oder -Shirts zu der schmucken Arena.

Gerade die Afroamerikaner – in De­troit sind mehr als 82 Prozent der Bevölkerung schwarz – strahlen etwas Trotziges, Lässiges, Abgehangenes aus. Die USA der Gegenwart spiegelt Detroit kaum wider, Trump-Wähler sind hier in der Minderheit (29,3 Prozent wählten ihn 2016 im County), obwohl er Michigan gewann. Seit 1962 wird Detroit ununterbrochen demokratisch regiert.

Malocher: Auch der Stolz der Detroit-Veteranen ist Teil der Geschichte

Das Potenzial Detroits als liberale, kreative Insel im sogenannten Rust Belt scheint also greifbar. Und doch liegt immer noch zu viel davon brach. Das liegt unter anderem daran, dass Detroit nicht annähernd so eine Ausgehkultur hat wie das – natürlich auch viel größere – Berlin. Dimitri Hegemann, der seit Langem gute Verbindungen zur Detroiter Musikszene hat, hält die Sperrstunde für ein großes Problem. Die Clubs in Michigan müssen, wie in den meisten US-Staaten, um 2 Uhr schließen. „Ein vibrierendes Nachtleben kann so nicht entstehen“, sagt er.

Dies ist auch ein Grund, warum Hegemann und Vertreter der Berliner Club Commission, ein Interessenverband der Berliner Clubszene, nach Detroit gekommen sind. Am Tag nach der Konferenz treffen sie sich im Rathaus mit Lokalpolitikern und -politikerinnen. An einem großen Konferenztisch in einem Amtszimmer – mit niedriger Decke und Möbeln, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben dürften – berichtet Hegemann in der zirka 25-köpfigen Runde, wie in Berlin dank eines 24/7-Nightlifes die Clubszene entstehen konnte, die die Stadt heute hat.

Am Tisch sitzt auch der Mann, der das Nachtleben managen soll: Adrian Tonon ist seit Ende 2018 Beauftragter für Night Time Economy. Der richtige Mann, betreibt er doch selbst ein Label, veranstaltet Konzerte und arbeitet als Produzent. Das Ergebnis des Treffens: Die Sperrstunde soll auf 4 Uhr ausgeweitet werden – Michigans Senator Marshall Bullock unterstützt die Neuregelung. Tonon schreibt später begeistert per Mail, dass am vergangenen Wochenende zum Movement Festival erstmals 24-Stunden-Lizenzen in bestimmten Zonen von der Polizei erteilt wurden. Auch das vielleicht ein Modell für die Zukunft.

Aber Berlin kann auch von Detroit lernen. Etwa wie effektiv und schnell gute Ideen lokaler Kollektive umgesetzt werden. Davon weiß Evan Adams zu berichten, der in einem Café in Downtown sitzt. Adams, 26 Jahre alt, Kurzhaarschnitt, sportliches Hemd, arbeitet bei einem Gründerzentrum und ist für die Veranstaltungsreihe „De­troit­Soup“ verantwortlich. „De­troit­Soup“ ist ein inzwischen viel kopiertes Funding-Projekt. Die Idee: Bei einem öffentlichen Suppendinner stellen sich pro Abend vier soziale und kreative Projekte vor, aus denen das Publikum einen Gewinner wählt. Von den 10 Dollar Eintritt pro Abend geht die Hälfte an das Siegerprojekt. Bei stadtweiten Veranstaltungen kommen so durchschnittlich 1.500 Dollar Förderung am Abend zusammen.

Unter den Gewinnern waren zuletzt etwa ein Hilfsprogramm für Kinder, die ihre Eltern verloren haben, eine Umweltini­tia­tive und ein Sozialprojekt, bei dem Jugendliche lernen, ihre Ängste und Aggressionen zu verstehen. Weil die Kommune diese Aufgaben oft nicht wahrnimmt, organisiert man sich selbst. Die abendlichen Zusammenkünfte seien bereits ein Wert an sich, sagt Adams: „Man kommt als Stadtgesellschaft zusammen.“

Detroit sucht nach einer neuen Erzählung, nach einem Sequel. Der Anpackergeist ist dabei allgegenwärtig. Gestern Malocher-, heute Machermentalität. Auch der Stolz auf diese Stadt, der Stolz der Detroit-Veteranen, ist Teil der Geschichte. „Aktuell herrscht das Narrativ des Comebacks und der Wiederbelebung vor. Und in fünfzehn Jahren wird es eine mehrdimensionale Erzählung sein, denke ich“, sagt Adams. Womöglich wird es eine Erfolgsgeschichte.

Die Recherche wurde vom Goethe-Institut unterstützt.

Das Deutschlandjahr in den USA 2018/19: wunderbartogether.org

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