Neuer Roman von Preti Taneja: König Lear in Indien

Der Anspielungsreichtum des Romans ist gigantisch. Taneja verlinkt Literatur mit Wirklichkeit, Geschichte mit Gegenwart, Shakespeare mit Indien.

Der Präsidentenpalast in Neu Delhi im Sonnenuntergange

Ein Blick auf den Präsidentenpalast in Neu Delhi Foto: reuters

Die Idee, Shakespeares Tragödie „König Lear“ in die Neuzeit zu katapultieren, ist keineswegs neu, doch bleibt sie auch immer wieder reizvoll. Die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz schrieb 1999 unter dem Titel „Dentro. Was bei den Lears wirklich geschah“ eine Ergänzung zum Stück, der belgische Autor Tom Lanoyes machte aus dem König eine Königin und aus ihrem geerbten Reich ein Finanzimperium, und auch der Schriftsteller Edward St Aubyn verlegte die Handlung seines Romans „Dunbar und seine Töchter“, erschienen in der Hogarth-Reihe „Shakespeare neu erzählt“, in die Zeiten des Turbokapitalismus.

Nun, alles das sind Peanuts angesichts des Wälzers von Preti Taneja, die nun auf mehr als 600 Seiten König Lear ins Indien der Gegenwart verpflanzt. Die Autorin stammt aus einer indischen Familie, wurde aber in Großbritannien geboren, wo sie auch lebt. Sie ist Journalistin und hat als Menschenrechtsaktivistin aus Krisengebieten berichtet. Für ihre Novelle „Kumkum Malhotra“ wurde sie 2014 mit dem Gatehouse Press New Fiction Prize ausgezeichnet; für ihren ersten Roman „Wir, die wir jung sind“, für den sie drei Jahre lang keinen Verlag gefunden hat, bekam sie den britischen Desmond-Elliot-Preis für das beste Romandebüt.

Tanejas Lear-Adaption schmiegt sich eng an die Gegebenheiten bei Shakespeare. König Lear tritt bei ihr aber in Gestalt des Firmenchefs Babuji Devraj auf, der im Laufe seines Lebens ein gigantisches Imperium in Indien aufgebaut hat: Hotels, Autos, Kleidung und, und, und. Alles schmeißt er mit großer Geste auf den freien Markt. Reale Firmenkönige wie Tata, Oberoi und andere standen hier unverkennbar Pate. Die indische High Society.

Die eine unglücklich verheiratet, die andere leichtlebig

Preti Taneja: „Wir, die wir jung sind“. Aus dem Englischen von Claudia Wenner. Beck Verlag, München 2019, 618 Seiten, 26 Euro

Wie bei Shakespeare plagt sich auch der indische Lear mit drei ziemlich unterschiedlichen Töchtern herum. Die älteste heißt Gargi und ist seine stellvertretende Geschäftsführerin, vordergründig moralisch streng, unglücklich verheiratet mit Surendra und mit voller Absicht kinderlos. Ihre jüngere Schwester, die leichtlebige Radha, leitet die PR-Abteilung des immer nur Company genannten Firmenimperiums.

Sie trägt Louboutins an den Füßen, schluckt schon mal Bloody Mary und Burger zum Frühstück herunter und twittert sich den ganzen Tag durch die sozialen Medien. Dabei gleicht sie jenen phlegmatischen Luxusmädchen, auf die man im sogenannten echten Leben schon mal in Schweizer Hotels trifft, wo sie von Europa schwärmen wie von einem ausgestopften Tier.

Das Nesthäkchen des indischen Lear heißt Sita, sie ist die Gute, in diesem Fall auch noch Menschenrechts- und Umweltaktivistin, Feministin sowieso und das hübsch geratene schwarze Schaf der Familie. Auch zwei Patensöhne gibt es, Jeet, der Männer liebt, was er wohlweislich verschweigt, und Jivan, der mittlerweile in Amerika lebt und mit dessen Ankunft in Indien der Roman seinen Anfang nimmt.

Roman mit verschiedenen Sichtweisen

Jedes Kapitel schreibt Taneja aus der Sicht eines anderen Kindes, dazwischen schaltet sich der Vater mit seiner Sicht der Dinge ein. Die Genannten sind längst nicht alle Figuren des opulenten Romans, der einen zuweilen so dumm dastehen lässt wie eine übervolle Party, auf der man keinen kennt.

Auch die vielen Begriffe und Sätze auf Hindi, bei denen man nicht selten kein Wort versteht, dienen der Überforderung. Die mit Indien bestens vertraute Übersetzerin Claudia Wenner erläutert im Anhang, dass sie diejenigen Begriffe, die in der deutschen Wikipedia stehen, nicht ins Deutsche übertragen habe. Kein Trost für diejenigen, die beim Lesen ungern googeln. Wie überhaupt das Glossar zum Roman ziemlich übersichtlich geraten ist, wobei die Überforderung wohl von der Autorin kalkuliert ist. Ein Stammbaum bzw. Personenverzeichnis wäre auch keine verkehrte Idee gewesen.

Aufgeblähtes männliches Ego

Shakespeares Drama liest Taneja dabei in erster Linie als soziale Tragödie, die alle betrifft, die solche Imperien auf der Grundlage patriarchaler Macht aufgebaut haben. In einem Interview erläutert sie: „Für mich ist der Patriarch der ‚Company‘, Bapuji, das ins Gigantische aufgeblähte männliche Ego, wie es gerade wieder überall an die Schalthebel der Macht gerät.“ Mit ihrem Konzern-König schafft sie das abschreckende Abbild eines indischen Oberhaupts und beweist damit en passant, dass alte weiße Männer nicht zwangsläufig weiß sein müssen.

Fabelhaft durchquert dieser Roman dabei das Moraldickicht Indiens, kein Aspekt bleibt links liegen: Schwulenfeindlichkeit, Frauenhass, sexueller Missbrauch, Korruptionsaffären, Minderheitenschutz, obszöner Reichtum, perverse Armut oder, oder, oder – in diesem Roman hat alles Platz und viel mehr. Mit Jivans Rückkehr nach 15 Jahren im Jahr 2012 setzt der Roman ein, was der Autorin die Möglichkeit gibt, das Indien vor und nach seiner wirtschaftlichen Öffnung zu fokussieren. Ein Indien ohne Coca-Cola, McDonald’s und Shopping Malls, einstmals normal, heute undenkbar.

Die Company im Roman sitzt in ­Delhi, gerade ist eine Hoteleröffnung in Kaschmir in vollem Gange. Taneja breitet alles haarklein aus, und man hätte ihr manchmal einen resoluten Lektor gewünscht, denn oft ergießt sich ein regelrechter Adjektivschwall über die Seiten. Jede Himmelsfärbung ergibt einen vollständigen Satz, manche Szene kommt derart überladen daher, dass einem beim Lesen fast ein bisschen schummrig wird.

Die Sonne, die durch den Smog blutet

Dann wieder begeistert Taneja mit Formulierungen, die einen von der Hitze gelbsuchtfarben getönten Himmel beschreiben oder eine Sonne, die durch den Smog blutet. Auf der nächsten Seite erschreckt sie dann mit Sätzen, die man nicht einmal ironisch lesen möchte: „Radhas Lächeln breitet sich in ihrem Körper aus, warm, wie die Sonne Goas.“

Oft ist es auch einfach nur ganz großes Kino: Frauen, die ohnmächtig nach hinten fallen, Männer mit ausgestochenen Augen, Sturm und Wahnsinn, alles heftig koloriert, pathosgesättigt, vorabendserientauglich, in Dolby Surround. Dicht an der Vorlage überschreibt Taneja Shakespeares Lear und wetzt sprachliche Makel inhaltlich souverän aus, etwa indem sie das Leben des Company-Chefs Devraj mit dem gewaltlosen Widerstand von Mahatma Gandhi verhakt, Hungerstreik und Wanderschaft inklusive.

Gestern mit Morgen verlinken

Der Anspielungsreichtum dieses Romans ist gigantisch, vergnügt verlinkt er das Gestern mit dem Morgen, die Literatur mit der Wirklichkeit, die Historie mit der Gegenwartspolitik, Shakespeare mit Indien.

Allein für die Idee, die Geschichte vom Herrscher Lear, der sein Land zwischen seinen Töchtern aufteilen will, ausgerechnet in den 1947 geteilten, von der britischen Kolonialherrschaft befreiten Subkontinent zu verlegen, zeugt von Chuzpe und hat Charme. Drei Töchter! Und das in Indien, wo auch heutzutage noch Föten abgetrieben werden, weil sie weiblich sind. Ganz zu schweigen von der patriarchal geprägten Gesellschaftsstruktur, die wie gemacht ist für eine Neuauflage von King Lear.

Doch dann verlabert sich dieser Roman wieder hier und da, sitzt in seinen Aufzählungen fest wie in einer Falle, beschreibt wieder und wieder Himmelsfarben, Wolkenformationen und wie alles und jeder riecht, schmeckt, tönt. Nach 620 Seiten ist’s dann genug. Dieser Roman ist eine Überforderung, und er will eine Überforderung sein. Darin kommt er Indien, dem wunderschönen und ekelhaften Land, ungeheuer nah. Kurz: ein extrem disparater Roman über ein extrem disparates Land.

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