Neuer Roman von Alina Bronsky: Haferschleim und Klavierstunden
Ein Junge und seine paranoide Großmutter sind Bronskys Hauptfiguren. Und alle Menschen sind unvollkommen und eigenartig unvorhersehbar.

Die Autorin Alina Bronsky ist eine Zauberin der Perspektive Foto: Julia Zimmermann
Es gibt ganz selten mal welche, die können dünne Bücher schreiben, weil sie mit wenigen Worten auskommen. Das meiste steht sowieso zwischen den Zeilen. So ist es oft bei Alina Bronsky, die aber nicht nur eine Meisterin des Unausgeschriebenen, sondern auch eine Zauberin der Perspektive ist – beziehungsweise, darüber hinausgehend, der Figureneinfühlung.
Bronskys neuester Roman ist ein kleines Kabinettstück, was all dies betrifft. Ganz und gar aus der Perspektive eines heranwachsenden Kindes geschrieben, ist die Hauptperson von „Der Zopf meiner Großmutter“ eine andere, nämlich eben jene Großmutter.
Irgend etwas scheint mit der Frau nicht zu stimmen; aber was das ist, daran tastet sich der Roman nur langsam heran. Denn der kleine Maxim, der Ich-Erzähler, ist sehr lange nicht in der Lage, die komplizierten Verhältnisse in der Erwachsenenwelt auch nur annähernd zu durchschauen.
Der Junge lebt mit seinen Großeltern in einem Wohnheim für jüdische Einwanderer aus Russland. Juden sind sie zwar nicht, aber sie durften nach Deutschland kommen, weil angeblich der Schwager eines Cousins des Großvaters … Oder so.
Die paranoide Großmutter
Maxim versteht das alles nicht, zu Beginn des Romans ist er ja auch erst im Vorschulalter und nimmt es hin, dass die Großmutter zwar an Feiertagen mit den anderen zur Synagoge geht, aber sonst immer auf die Juden schimpft und vor allem den Enkel ständig warnt, er solle sich nicht von „dem rothaarigen Juden“ entführen lassen; eine Figur, die man unweigerlich als Pendant zum chimärischen „schwarzen Mann“ begreift.
Was die Warnung in Wirklichkeit bedeutet, wird Maxim – und also wir alle – erst gegen Ende des Romans herausfinden. Doch zunächst hat er jahrelang unter der paranoiden Überängstlichkeit der Großmutter zu leiden, die ihn ausschließlich mit Haferschleim und ähnlichem Zeug ernährt, da sie befürchtet, er könnte sonst sterben, und die, als Maxim eingeschult wird, im ersten Jahr darauf besteht, mit in die Schule gehen zu müssen, damit ihm nichts zustößt.
Der kleine Maxim, der Ich-Erzähler, ist sehr lange nicht in der Lage, die komplizierten Verhältnisse in der Erwachsenenwelt zu durchschauen
Die unschuldige Naivität des Ich-Erzählers, der lakonische Tonfall des Textes und die Absurdität der geschilderten Verhältnisse gehen eine so eigene Koalition miteinander ein, dass, auf der einen Seite, eine recht spezielle Form der Komik entsteht. Doch hinter dem Absurden lauert spürbar etwas Unbekanntes, möglicherweise sogar Bedrohliches. Vielleicht hat die furchteinflößende Großmutter ja das Münchhausen-Syndrom?
Episoden der menschlichen Komödie
Die Situation entschärft sich zugunsten von Maxim, als eine echte, ziemlich große Familienkrise eintritt: Der sonst so stoische Großvater hat sich verliebt und sehr überraschend ein Kind mit Maxims Klavierlehrerin gezeugt. Erst jetzt zeigt sich, was wirklich in der Großmutter steckt; denn statt in Verzweiflung und Hysterie zu verfallen, macht sie sich zum Oberhaupt einer ungewöhnlichen kleinen Patchworkfamilie. Allerdings ist damit längst noch nicht alles gut …
„Der Zopf meiner Großmutter“ erzählt eine Geschichte, die so viele tragische und dramatische Züge enthält, dass sie sehr passend auch als Melodram wiedergegeben werden könnte. In der Bronsky-Erzählwelt aber läuft das anders. Dort werden auch Dramen und Tragödien zu Episoden einer großen menschlichen Komödie. Der Mensch, nein, alle Menschen sind darin so unvollkommen und eigenartig unvorhersehbar, dass sie noch in Momenten höchster Not für Überraschungen gut sind.
Es ist, als läge ein nachsichtiges göttliches Lächeln über dem Text; eine Art schützende Aura vor den unleugbaren Zumutungen des Lebens. Und am Ende dieses nur äußerlich kleinen Romans wird nicht nur Maxim erwachsen geworden sein, sondern auch seine Großmutter wird sich von ihrem früheren Selbst emanzipiert haben. In der Bronsky-Welt hat nämlich wirklich jeder Mensch das Recht auf seinen ganz persönlichen Entwicklungsroman.
Leser*innenkommentare
05031 (Profil gelöscht)
Gast
was für schöne, einfühlsame zeilen empathischer kritik, die unbedingt lust aufs lesen dieses buches machen. vielen dank, frau granzin!
lanke
@05031 (Profil gelöscht) Ja, das finde ich auch. Das Buch ist auf der Einkaufsliste!