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Mit dem Plietschfon gegens Heimatgeföööööööööööhl

Intelligentes Vergnügen auf Platt: Mit dem Sprachkonzert „Middenmang!“ öffnet sich das Ohnsorg-Theater mutig für die Zukunft des regionalsprachlichen Volkstheaters

Putzig choreografierter Silbenrausch: Auch darstellerisch ist „Midenmang!“ hochgradig präzise Foto: Sinje Hasheider

Von Jens Fischer

Ihr Lebensgefühl: im Regen stehen. Pitschnass triefend entledigen sie sich ihrer Ostfriesennerze. Zwei Männer, zwei Frauen. Nicht arm, nicht reich – nicht hungrig, nicht satt – nicht superschlau, nicht extradumm. Immer irgendwie dazwischen. Als Vertreter der bürgerlichen Mittelschicht erobern sie die Mitte des Studio-Schlauchs unterm Dach des Ohnsorg-Theaters, legen ihre Textbücher auf Notenständer und betonen einer nach dem anderen mit Stolz: „Dörsnitt sein, is för mi Ehrensaak … Ik bün de Midd vun de Gesellschop / middenmang / ik bün dat Fundament.“

Zum Sichwohlfühlen wurde diesen Muster-Normalos ein deutscher Wald in den Bühnenhintergrund gemalt. An jedem Baum hängt ein Vogelzwitscherhäuschen. Aber Piepmätze müssen gar nicht konzertierend ihre Köpfchen herausstecken. Das menschliche A-cappella-Quartett erhebt seine Stimmen. Solistisch, chorisch, im Duett oder Kanon entwickelt es im Sprachrhythmus einen feinen Groove mit Klängen, Jonglagen und Reimen der Worte.

Auch werden Aussagen mit dazwischen gerufenen Lauten, purem Nonsens oder Kurzkommentaren metrisch strukturiert. Einmal kommt der Beat gesteppt daher. Dann hebt jemand mit Opernemphase ab auf dem pulsierend skandierten Vokal eines Kollegen. Es wird auch gerappt, gerockt, geschlagert. „Dat, wat ik över’t Leven denke do.“

Der in Bremen geborene und heute in Oldenburg lebende Autor und Regisseur Marc Becker hat mit „Middenmang!“ eine Sprachkonzert-Partitur geschrieben, die er 2010 am Staatstheater Oldenburg uraufgeführt, nun mit Updates versehen und auf Hoch- und Plattdeutsch neu inszeniert hat.

Denn das Thema hat noch an Brisanz gewonnen. Die schweigende Mehrheit, Motto: nach oben anbetend buckeln und nach unten furchtvoll treten, ist in den letzten Jahren teilweise laut und stark geworden. In Zeiten wachsender gesellschaftlicher Umwälzungen mit dem Erleben von Flucht- und Migrationsfolgen vor der Haustür, haben sich Zukunftssorgen, Furcht vor sozialer Deklassierung und ganz konkrete Abstiegsängste verstärkt. Geradezu explosiv aufgeheizt wirkt diese Bangigkeit.

Seit 2014 findet das Denken der angeblich Zukurzgekommenen und Übervorteilten ihren Ausdruck in rechtspopulistischen Bewegungen in und außerhalb der Parlamente. Becker lässt sie zu Wort kommen mit Floskeln, Phrasen, Parolen, Argumenten und Stammtischtiraden zu „Klimawannel, Slamassel bi de Banken, Lüdd ahn Arbeit, Terrorismus, Flüchtlingen“ und angeblich schwindendem „Heimatgefööööööööööhl“ – gesprochen mit schätzungsweise 3.236 Ö.

Es gibt forsch fragende, verwirrt räsonierende, plump agitierende Beiträge. Meinungen werden als Wahrheiten geäußert. Neid lungert hinter jeder Satzbiegung.

Wem die eigene Lebensmisere zu verdanken sei? „Schuld sünd de Arbeitslosen, hihi, Behinnerten, haha, Drogenafhängigen, hoho, und de mit ’n slechte Utbillen, huhu.“ Wichtig seien daher „Vadderland un Mudderspraak / Juppheidi Tralali Falaror / De ewigen Kinner sünd dor.“ So konterkariert der Autor immer wieder kauzig sarkastisch das sich radikalisierende Gerede, im Textbuch nennt er es „Meckern auf tiefem Niveau“.

Das wird zudem putzig choreografiert. In diesem Fall tänzeln Tanja Bahmani, Holger Dexne, Sebastian Herrmann und Birte Kretschmer wie Winke-Winke-Teletubbies. Manchmal führt Becker auch mit dadaistischem Furor die kruden Beiträge im Silbenrausch ad absurdum. Inszeniert auch kleine Kabarettszenen, wenn es beispielsweise um die neue alte Volkstümelei geht und die Sehnsucht nach dem „Rausch der totalen Unterdrückung“ und einem großen starken Mann aufflammt.

Eine kunstvolle Abrechnung mit dumpf aufbrausender Kleingeisterei

Es gibt auch reichlich satirischen Beifang. Etwa eine Nummer über den Optimierungswahn erfolgsorientierter Menschen. Im flotten Jogging-Tempo wird artikuliert: „Mien ne’et Plietschfon het so vele ne’e Funktschonen / Plietschfon Plietschfon plietsch / Ik will ok mehr Funktschonen hebben / Woso heff ik jümmers noch keen Internetanschluss in mien Kopp / Input Input Input.“

Aus der Frage „Ik weer so geern woanners annerswo, bün ik hier richtig?“ entwickelt sich beleidigtes Grübeln, warum das Leben augenscheinlich immer nur dort tanzt, wo man gerade nicht ist. „Hilfe, ich stagniere!“ Hinreißend schließlich wenn links auf der Bühne „Opti- Opti- Opti‑“, rechts „-mist, -mist-, -mist“ deklamiert und mittenmang über „Tokunft“ fabuliert wird. Aber „Perspektiven sünd utverköfft“, wie es heißt. Alle singen: „Glücklich ist, wer vergisst, dass er unzufrieden ist.“

Das ist sprachlich, artikulatorisch, musikalisch, darstellerisch und inszenatorisch einfach ein hochgradig präzises, spaßig intelligentes Vergnügen. Eine kunstvolle Abrechnung mit dumpf aufbrausender Kleingeisterei. Mutig hat das Ohnsorg-Theater für diese Produktion gleich mehr als 30 Vorstellungen auf den Spielplan gesetzt.

Auch wenn das Publikum noch ein bisschen fremdelt, genau mit solch ästhetischem Wollen und Können öffnet sich das Haus für die Zukunft des regionalsprachlichen Volkstheaters. „Middenmang!“ gehört zu den gelungensten Arbeiten der Hamburger Theatersaison 2018/19.

Sa, 11. 5., 19 Uhr, Ohnsorg-Theater. Weitere Termine: 16.–18. 5., 23.–25. 5., 28./29. 5.

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