Kein Schutz, nirgends

155 Morde an sozialen Aktivisten haben die Experten von Somos Defensores im Jahr 2018 in Kolumbien registriert – 46 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Regierung von Iván Duque bleibt untätig

Trauerfeier für ermordete Aktivisten in Buenaventura, schon 2015. Seither hat sich die Zahl der Morde vervielfacht Foto: Meridith Kohut/NYT/redux/laif

Von Knut Henkel

„La Naranja Mecánica“, „die Saftpresse“, haben die Analysten der Menschenrechtsorganisation Somos Defensores ihren Jahresbericht 2018 genannt. Ein ironischer Titel und eine Anspielung auf die „Economía Naranja“, für die Präsident Iván Duque eintritt. Die „orange Wirtschaft“ soll auf den kulturellen Reichtum und die Kreativität der Bevölkerung setzen. Aber die Realitäten in Kolumbien sehen vollkommen anders aus.

Land- und Bergbaukonflikte prägen das vom Export von Agrar- und mineralischen Rohstoffen lebende lateinamerikanische Land. „Vor allem kommunale Aktivisten, die sich gegen Megaprojekte engagieren und für die Rückgabe von zwangsenteigneten Landflächen, sind extrem gefährdet“, erklärt Shirley Muñoz, Pressesprecherin von Somos Defensores (Wir sind Verteidiger). Die Menschenrechtsorganisation, auf deren Zahlen nicht nur internationale Organisationen zurückgreifen, sondern auch die kolumbianische Regierung, schlägt Alarm angesichts der extremen Zunahme von Morden und Angriffen auf Menschenrechtsaktivisten. „2017 haben wir 106 Morde an politischen und sozialen Aktivisten registriert, 2018 waren es 155. Das ist eine Zunahme von 46 Prozent – das ist beispiellos“, sagt Muñoz.

Ernüchternd sei zudem, dass sich der Trend weiter fortsetzt, denn im den ersten drei Monaten des Jahres habe es bereits 245 Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger gegeben – im Jahr 208 waren es insgesamt 805. Obendrein stehen im Oktober die Kommunalwahlen an. Rund um die Wahlen schnelle die Zahl an Morden in aller Regel weiter nach oben, warnt Muñoz.

Entscheidend für die anhaltende Gewalt gegen soziale wie politische Aktivisten sei, so Carlos A. Guevara von Somos Defensores, dass es keine strukturelle Politik der Regierung gibt, die diese Angriffe unterbinde. „Nehmen Sie die .Nationale Schutzeinheit', die UNP, die bedrohten Aktivist*innen Personenschützer stellt. Die arbeitet nicht direkt mit der Staatsanwaltschaft zusammen – erstattet weder Anzeigen, noch reicht sie Erkenntnisse weiter.“

Im Übrigen ist die Schutzeinheit in Bogotá angesiedelt, in den 32 Verwaltungsbezirken wird sie erst noch aufgebaut. Folgerichtig sind gefährdete Menschenrechtsverteidiger in den brisanten Regionen wie dem Cauca oder dem Chocó oft auf sich gestellt, wenn sie nicht Hilfe durch andere Organisationen wie Somos Defensores erhalten. Die beobachten nicht nur, sondern beraten auch und sorgen im Notfall dafür, dass gefährdete Aktivist*innen in Sicherheit gebracht werden – nach Bogotá oder auch ins Ausland.

Die kolumbianische Staatsanwältin María Nancy Ardila etwa ging im letzten Juni nach der Ermordung zweier ihrer Brüder nach Madrid ins Exil. In Kolumbien war sie nicht mehr sicher – der Staat hatte ihr die Personenschützer gestrichen. Auch die Richterin Liliana Arias aus der Nähe von Medellín, die im Februar 2019 zwei Morddrohungen erhielt, musste mehrere Wochen warten, bis sie endlich zwei Bodyguards gestellt bekam. „Ich fühlte mich alleingelassen“, klagt die Richterin. Sie musste umziehen und befindet sich gemeinsam mit ihren Kindern in psychologischer Behandlung.

Wie soll eine Justiz funktionieren,wenn weder Richter noch Staatsanwälte sicher sind?

Um die hat sich die Nichtregierungsorganisation Fasol gekümmert, die dank der Spenden vom kirchlichen Hilfswerk Misereor und dem Deutschen Richterbund bedrohten Mitarbeitern im Justizsektor hilft. Doch wie der Staat ein funktionierendes Justizsystem aufbauen will, wenn er seine Richter, Staatsanwälte und Ermittlungsbeamte nicht schützt, ist auch Gustavo Gallón schleierhaft, dem Direktor der Kolumbianischen Juristenkommission.

„Ein Grund für die anhaltende Gewalt gegen Menschenrechtsaktivisten ist die Straflosigkeit“, sagt Gallón. Der andere ist der neuerliche Aufschwung der Paramilitärs, auf deren Konto laut den Analysten von Somos Defensores das Gros der Morde an Menschenrechtsaktivisten geht. Allerdings sind auch Drogenbanden wie die Caparrapos, abtrünnige ehemalige Farc-Guerilleros sowie jene der ELN, der derzeit größten noch aktiven Guerilla, für Anschläge verantwortlich.

Sicherheit gibt es in Kolumbien in vielen Regionen nicht. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages mit der Farc-Guerilla vereinbarte Kommission für Sicherheitsgarantien bis dato nicht agiert. „Wesentliche Aufgabe der Kommission ist es, Strategien für die Bekämpfung der Paramilitärs zu entwickeln. Doch in diesem Jahr hat sie sich erst einmal getroffen“, sagt Gustavo Gallón. Er gehört der Kommission an und wirft der Regierung von Präsident Iván Duque Inaktivität vor. Und so bleibt Kolumbien das gefährlichste Land für Menschenrechtsaktivisten der Region – weit vor Mexiko.