heute in hamburg: „In der Kneipe haben sich die Leute politisiert“
Buchvorstellung „Stolpersteine in der Hamburger Neustadt und Altstadt - Biographische Spurensuche“: 18:30, Katholische Akademie, Herrengraben 4, Eintritt frei
Interview Till Wimmer
taz: Frau Rosendahl, wer wohnte während des Nationalsozialismus in der Innenstadt?
Susanne Rosendahl: Die Neustadt und Teile der Altstadt waren Arbeiterviertel, aber auch ein Großteil der jüdischen Bevölkerung lebte dort. Das Gängeviertel in der Neustadt wurde auch „Klein Moskau“ genannt. Schon vor 1933 kam es dort zu täglichen gewaltsamen Auseinandersetzungen und Straßenkämpfen zwischen den Gegnern des Nationalsozialismus und anderen Verbänden. Viele Menschen waren politisch organisiert. Da haben die Leute den ganzen Tag geschuftet und sind nach Feierabend in die Kneipen gegangen um sich zu politisieren. Heute geht man nach Hause, macht den Fernseher an und das war’s.
Was war noch besonders an den Vierteln?
Wenige Personen von dort konnten sich eine Emigration leisten, denn für die USA brauchte man zum Beispiel eine Bürgschaft. Kein Land wollte arme Geflüchtete aufnehmen. Das ist ja aktuell wieder so.
Weshalb sind Sie überhaupt auf Spurensuche gegangen?
Mein Großonkel war Kommunist, wurde verhaftet und wegen Vorbereitung zum Hochverrat angeklagt. Er starb im Alter von 27 Jahren an den Folgen schwerer Misshandlung. Als ich vor etwa sieben Jahren den Stolperstein für ihn im Stadtteil St. Georg verlegen ließ, lernte ich die Stolperstein-Biografie Gruppe kennen. Seither habe ich zu 284 Biografien recherchiert. Irgendwann musste ich die Arbeit an den beiden Bänden jedoch beenden, sonst wären sie nie erschienen. Für die Internetseite www.stolpersteine-hamburg.de recherchiere ich aber weiter.
Welche Schicksale haben Sie berührt?
Susanne Rosendahl, 56, Grafikerin, seit 2008 im Projekt „Stolpersteine in Hamburg“, für die Neu- und Altstadt zuständig.
Die der Kinder. Da gibt es zum Beispiel die Geschichte von Manfred Bala, der uneheliche Sohn einer Arbeiterin. Er kam in ein Kinderheim. Da sich dort niemand richtig um ihn kümmerte und er sich langsamer als andere entwickelte, wurde er später weiter verlegt. Noch keine drei Jahre alt wurde er 1943 in der Heil- und Pflegeanstalt Kalmhof ermordet. Wie die meisten Stolpersteine in der Neustadt, liegt auch seiner heute vor einem Nachkriegsbau.
Was ist Ihre Erkenntnis aus der Recherche?
Ich muss sagen, je länger ich mich mit dem Thema beschäftigt habe, desto weniger habe ich die Zeit des Nationalsozialismus verstanden, so wenig Leute haben damals etwas dagegen getan oder später nichts gewusst. Wer seine Vergangenheit nicht kennt, hat auch keine Zukunft.
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