: Moral und Milliarden
Bei ihrem Erfurter Ostkonvent inszeniert sich die SPD weiter als Kümmererpartei
Aus Erfurt Michael Bartsch
Die Autofahrt auf der A4 zum Ostkonvent der SPD am Sonnabend in Erfurt führt sehr praktisch ins Thema ein: Auf Dutzenden Kilometern besteht Tempolimit wegen des miserablen Fahrbahnzustands. Die Aufbau-Ost-Milliarden des Nachwendeschubs für die Infrastruktur sind aufgebraucht, und auch noch dreißig Jahre danach wird das Beitrittsgebiet wie ein hilfsbedürftiges Entwicklungsland betrachtet. Die Sozialdemokraten widmen der Problemzone jetzt ein 24-seitiges „Zukunftsprogramm Ost“, das in Erfurt vorgestellt wurde. Selbstverständlich schiele man damit nicht auf die drei im Herbst stattfindenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, dementierte der SPD-Ostbeauftragte und sächsische Landeschef Martin Dulig entsprechende Mutmaßungen.
Zwei Tage zuvor hatten sich nur wenige Kilometer entfernt, in Neudietendorf, die Ost-Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin getroffen. Auch hier ging es um gleichwertige Lebensverhältnisse, Rentenansprüche, die drohende Herabstufung Ostdeutschlands als EU-Förderziel ab 2021, die psychologisch wichtige Ansiedlung von Bundesbehörden und die Dominanz von Westdeutschen auf allen Leitungsebenen. Beide Termine hatten gemeinsam, dass die Problembeschreibung wesentlich leichter fiel als die Formulierung einer konkreten Handlungsagenda.
Wenn eine solche in Erfurt zu vernehmen war, ging es vor allem um Ziele, die die sich neu „verlinkende“ SPD derzeit auch auf Bundesebene in der Großen Koalition durchsetzen möchte. Andrea Nahles erwartet, dass 750.000 Ostdeutsche von der geforderten bedingungslosen Grundrente profitieren könnten. Familienministerin Franziska Giffey findet die Kinderbetreuung wie auch die Impfpflicht in der DDR nachahmenswert und preist das kürzlich vom Bundestag verabschiedete „Starke-Familien-Gesetz“. Mietwucher in ganz Deutschland soll juristisch begegnet werden.
Die Stimmung, die die Parteispitze und die Bundes- und Landesminister unter den 300 versammelten Gästen zu wecken versuchen, erinnert an die geschickte Ermunterungsstrategie des „Sachsenkönigs“ Kurt Biedenkopf während der 1990er Jahre. Auf die Moral kommt es an; „Selbstbewusstsein mit den Mundwinkeln nach oben“ nennt das Martin Dulig. Dazu gehörten die Anerkennung der früheren Lebensleistungen der Ostdeutschen wie die der Kraftanstrengung nach 1990, sagte Matthias Platzeck, ebenso die Benennung der Verletzungen und der biografischen Brüche während der Nachwendeturbulenzen.
Auf den früheren brandenburgischen Ministerpräsidenten geht auch der Vorschlag zurück, ein architektonisch attraktives „Zukunftszentrum Ost“ einzurichten. Eine Art Mekka für Ossis, wo dieser Umbruch erzählt und nach vorn diskutiert wird. An die Biedenkopf-Ära wiederum erinnert das technologisch-industrielle Vorhaben der SPD. „Nicht West-Nachbau, sondern Ost-Vorsprung“, lautet das Motto, unter dem speziell Martin Dulig „europäische Leitprojekte“ für Batteriezellentechnologie und alternative Antriebe fördern will.
Gefordert wird auch ein Kompetenzzentrum „Digitalisierung und ländlicher Raum“ in Ostdeutschland. Das könnte den Bund einige Milliarden kosten, ebenso wie weitere Bundesförderung strukturschwacher Regionen nach Auslaufen des Solidarpaktes in diesem Jahr.
Neben SPD-Üblichkeiten wie Sozialem, Arbeit und Bildung wird auch eine Beseitigung der „strukturellen Schieflage bei der Zerlegung der Einkommen- und Körperschaftsteuer“ angesprochen. Warum die SPD ein spezielles Ostprogramm brauche, wo sie doch in allen sechs Ostländern regiert oder mitregiert, fragten Journalisten. Man merke schon, „wo Sozialdemokraten ihre Pfoten drin haben“, entgegnete darauf Parteichefin Nahles.
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