: Mrs Hasib denkt an London
Sie lebte in einem Nonnenkloster in England, verliebte sich in einen pakistanischen Offizier, ging mit ihm in das ihr unbekannte Land und fühlte sich frei. 60 Jahre ist das her. Eine Migrationsgeschichte
Aus Lahore Nils Heininger (Text und Foto)
Parveen Hasib ist eine Lady. Sie spricht höflich, mit leichtem pakistanischem Akzent, und nimmt doch kein Blatt vor den Mund. Ihren Shalwar Kameez, die traditionelle Kleidung in Pakistan, kombiniert die stilvoll geschminkte Frau mit einer Jacke gegen die Kälte. Sie holt Tee aus der Küche, mit Milch wie in England. Einige Gewohnheiten pflegt sie bis heute, obwohl sie vor mehr als 60 Jahren das Land verließ.
Damals, 1957, hieß sie noch Pauline Margaret. Geboren als Tochter eines Soldaten und einer Krankenschwester, wuchs sie in einem Ordenshaus in London unter Nonnen auf. Bei einem Ausflug auf die Schlittschuhbahn wurde sie von einem pakistanischen Offizier angesprochen, gut aussehend, stattlich, höflich, ob sie ihm das Eislaufen beibringen könne, fragte er. „Natürlich ist er hingefallen.“ Die Lehrstunde zeigte dennoch Wirkung: Ende des Jahres machte Mr Hasib der damals Zwangzigjährigen einen Heiratsantrag.
Pakistan war 1957 ein junger Staat. Der Rückzug der Briten und die Teilung des Subkontinents in einen indischen und zwei pakistanische Teile (ein Teil wurde 1971 das unabhängige Bangladesch) lagen erst zehn Jahre zurück. Und da wollte eine Christin, aufgewachsen im Nonnenkloster, in die damals einzige islamische Republik der Welt auswandern? „Auch wenn sich meine Mutter sorgte – mein Vater war schon tot –, Hasib war ein rücksichtsvoller Mann. Ich vertraute ihm.“
Heute sitzt sie als Parveen Hasib in ihrem Haus im Lahore. „Die Namensänderung war selbstverständlich. Pauline, Parveen: Es klingt ähnlich und mir war es gleich.“ Sie schenkt Tee nach.
Mrs Hasib sitzt im Sessel, in dem früher immer ihr Mann saß. Er starb vor 15 Jahren. „Ich hatte nie vor, zurückzukehren. Ich habe alles hier: Freunde, Familie, Arbeit. Das Wunderbare an Pakistan ist, dass die Familienbande viel stärker sind. Alle kümmern sich.“ Ihren 80. Geburtstag hat sie vergangenes Jahr mit Freunden und dem Kollegium der Schule gefeiert, in der sie immer noch arbeitet. Lehrerin für Geschichte, Erdkunde und Englisch ist sie. In ihren Klassen sind auch Schüler und Schülerinnen mit Downsyndrom, der Unterricht ist inklusiv, Lernerfolge erwärmen ihr Herz. Weil sie glaubt, dass Pakistan derzeit eine negative Richtung einschlägt, erinnere sie ihre Schüler ständig daran, dass sie die Zukunft seien. „Wenn ihr in einem guten Land wohnen wollt, müsst ihr es selbst gestalten.“
Nicht Religion und Fanatismus machen ihr heute Sorgen, sondern der Verlust von Offenheit und dass Geld die Menschen regiere. Die Zeiten der extremen Mullahs, die das Land radikalisierten, seien vorbei. Das sei in den 1970er und 1980er Jahren gewesen unter der Herrschaft des Militärdiktators Zia-ul-Haq, der, unterstützt von den Westmächten im Kalten Krieg, das Land mithilfe radikaler religiöser Gelehrter islamisierte.
Mrs Hasib erinnert sich lebhaft, wie plötzlich Männer auftauchten, die unverschleierte Frauen bedrohten, anschrien, an den Haaren zogen. Diese Art Dogmatismus wollte sie nicht. Er gab der Religion, zu der sie sich hingezogen fühlte, ein hässliches Gesicht.
Dabei gefiel es ihr doch, dass die Muslime an einen verzeihenden Gott glauben. Die katholischen Nonnen hatten ihr stets gepredigt, dass sie für alles bestraft würde. „Egal, was ich tat, ich komme sowieso in die Hölle. Ich habe mir schon immer gedacht: Das kann so nicht sein.“ Ihr Mann war kein praktizierender Muslim, nie hatte er sie gebeten zu konvertieren. Dennoch trat sie zum Islam über.
Aber die radikalen Mullahs im Verein mit dem General Zia-ul-Haq entstellten ihre Religion. Als der von ihr verhasste Diktator bei der Hochzeit einer ihrer Töchter auf der Gästeliste stand, da er mit der Familie des Bräutigams verkehrte, organisierte sie einen offiziellen und einen inoffiziellen Teil der Feier für die 300 Gäste. Auf der inoffiziellen war der General mit seiner Entourage aus Sicherheitsleuten und Geheimdienstlern nicht mehr dabei.
Pakistan habe sich mittlerweile beruhigt, meint Parveen Hasib, obwohl man immer noch vorsichtig sein müsse, was man sagt. „Heute wird vieles als Blasphemie ausgelegt. Die Religiosität nimmt zu in dem Land. Aber wir sind auch weltoffener geworden.“
Als Mrs Hasib das erste Mal pakistanischen Boden betrat, war das Land ein anderes. Noch kein sowjetischer Einmarsch in Afghanistan, noch kein 9/11, keine Allmacht des Geldes. Melancholie liegt in ihrer Stimme, wenn sie von früher erzählt.
Zuerst lebte sie nahe Peschawar, machte oft Ausflüge an den Khaiberpass zur afghanischen Grenze. Sie lernte Urdu, wollte teilhaben am Leben. Sie ging alleine einkaufen und fühlte sich nie unwohl. Das, was an materiellem Wohlstand fehlte, machte die Herzlichkeit der Menschen wett. Und ihr Mann, Major Hasib.
Der diente in der Nähe Peschawars und war vor allem an der Kontrolle des Warenverkehrs beteiligt. Kurz nach dem Staatsstreich General Ayub Khans im Jahr 1958 kamen zwei Männer in sein Haus und legten ihm 50.000 Rupien, eine Riesensumme, auf den Tisch, damit er bei Kontrollen am nächsten Tag ein Auge zudrückt. Er wimmelte die Leute ab und verweigerte am nächsten Tag den Dienst. Bald danach verließ er das Militär. Warum? Seine Vorgesetzten seien korrupt gewesen, das habe er nicht mitgemacht.
„Falls Sie denken, Pakistan ist ein armes Land: Ist es nicht! Schauen Sie sich nur all diese Autos auf den Straßen an. Luxus, wo kommt das ganze Geld dafür her?“ Für Mrs Hasib ist die Antwort klar. Die Werte haben sich verändert. Viele protzen mit Geld, während Tagelöhner zur gleichen Zeit unter Brücken schlafen. „Wäre ich 60 Jahre später nach Pakistan gekommen, ich würde es nicht aushalten.“
1962 zog die Familie ins Swattal. Der Major a. D. baute dort eine Fabrik für Kunstseide auf. Heute ist die Gegend vor allem durch die Taliban und die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai bekannt, der von religiösen Extremisten in den Kopf geschossen wurde, nur weil sie als Mädchen zur Schule ging. Malala überlebte. Lieber als an solche Geschichten erinnert sich Mrs Hasib aber an die wunderschöne Gegend und all die Menschen, die sie willkommen hießen. „Niemand erzählte mir, was ich zu tun oder zu lassen habe.“
Weil es im Swattal keine geeignete Schule für ihre Töchter gab, Frau Hasib aber Wert auf Bildung legte, zogen sie nach Lahore. Obwohl sie damals noch keine Muslimin war, bestand sie zudem darauf, dass ihre Tochter privaten islamischen Religionsunterricht bekam. Doch als das Mädchen dem Religionslehrer einmal widersprach und er sie schlug, war Schluss. „Ich warf ihn raus.“ In ihrer Umgebung dürfen die Mullahs keinen Hass predigen. Sie liebt die Offenheit.
Wieder erzählt sie von früher, erzählt von einer spanischen Nonne, die nach zwei Gläsern Wein im Wohnzimmer Flamenco tanzte, und von einem Priester, den die pakistanischen Mädchen vom Zölibat abbrachten. Sie erzählt, wie ihr Mann einmal ein ganzes Fass Whisky bei einer Wette gewann und von pakistanischen Freunden, die am Wochenende vorbeikamen, um zusammen Harmonium zu spielen, zu singen, das Leben zu genießen.
Dabei war ihr Leben nicht immer leicht. Über zehn Jahre pflegte sie ihren Mann, nachdem er an Darmkrebs erkrankte. Sie fütterte und badete ihn, während sie tagsüber in der Schule als Lehrerin arbeitete. Auf einmal war das Geld knapp. Seine Pension war nicht hoch, ihr Gehalt als Lehrerin wiederum reichte kaum für beide. „Ich hatte Probleme, Windeln für meinen Mann zu kaufen. Ich betete, bat Allah um Beistand.“ Am nächsten Tag wurde sie zum Schulleiter gerufen und bekam ihre nicht genommenen Urlaubstage ausbezahlt. Im Beten findet Mrs Hasib Frieden.
Auch an dem Tag, als ihr Mann starb, rief sie Allah an. Ihr Mann hatte den ganzen Tag nur geröchelt. Die Ärzte entließen ihn schließlich und schickten das Paar nach Hause. Hasib sagte nur einen Satz zu seiner Frau: „Ich möchte, dass du mutig bist.“
Mrs Hasib hat zwei Töchter und zwei Söhne. Die Verwandtschaft ist über die Welt verteilt. Sie indes hat es nie mehr weggezogen aus ihrer Wahlheimat. Ihre Söhne leben mittlerweile in England. Einer ist in London Miteigentümer eines Pubs. Er möchte, dass seine Mutter zu ihm zieht. Er würde sich auch um ihr Visum kümmern, denn ihre britische Staatsbürgerschaft hat sie schon lange verloren. „Wenn er aber glaubt, ich wasche seine Wäsche, dann irrt er sich. Er soll mich anstellen im Pub.“
Mrs Hasib weiß nicht, ob sie gehen will. Noch fährt sie mit dem Auto zur Schule und bewältigt die täglichen Arbeiten im Haus. „Als mein Mann gestorben ist, da war ich noch jung, 64 Jahre. Nur, wer weiß, wie lange ich es hier alleine schaffe. Wenn ich nach England fahre, gibt es keine Rückreise mehr.“
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