: Der syrische Totengräber von Izmir
Der Bürgerkrieg in Syrien geht ins neunte Jahr. Auf einem Friedhof im westtürkischen Izmir bestattet ein Syrer seine Landsleute, die in der Türkei gestorben sind, in anonymen Gräbern. Viele von ihnen sind wie er vor dem Krieg geflohen
Von Sevda Aydın
Auf dem Friedhof Doğançay nordöstlich von Izmir ist nur das Geräusch von Schaufeln und Erde, die auf einen Haufen geworfen wird. Der Syrer Şeho Abbas* hebt ein neues Grab aus. In diesem Teil des Friedhofs werden Geflüchtete begraben, die in Izmir und Umgebung gestorben sind. Die meisten von ihnen kommen aus Syrien.
Das türkische Staatsangehörigkeitsrecht regelt, dass in der Türkei verstorbene Geflüchtete, die nicht in ihr Heimatland zurückgeführt werden können, auf anonymen Grabfeldern des Friedhofs zu bestatten sind. Laut dem Migrationsforscher an der Hacettepe Universität in Ankara, Murat Erdoğan, sind in der Türkei in den vergangenen acht Jahren mehr als 10.000 Syrer gestorben. Die meisten starben bei der Flucht über das Meer, bei der Geburt oder unmittelbar nach der Geburt. Auf dem Doğançay-Friedhof gibt es Hunderte Gräber syrischer Geflüchteter, die mit dem Eintrag „Identität unbekannt“ oder „Identität bekannt“ in den Friedhofsakten vermerkt sind. An den Grabstellen der Babys ist lediglich eine kleine Holztafel angebracht, auf der die Geburts- und Todesdaten stehen.
Auf der Flucht verloren viele Menschen einander
Seit zwei Jahren arbeitet Şeho Abbas hier. In Syrien war er Bauer, nun mache er diese Arbeit, weil er nichts anderes könne, als mit Erde zu arbeiten, sagt er. Nachdem er vor acht Jahren vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen ist, arbeitete er zunächst im Umland von Izmir als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft. Wegen der unerträglichen Arbeitsbedingungen dort sah er sich gezwungen, in die Stadt zurückzukehren. Über einen Bekannten hat er schließlich den Job auf dem Friedhof gefunden. Jedes Mal, wenn der Leichnam eines Geflüchteten hier ankomme, erinnere ihn das an den eigenen Schmerz, erzählt Abbas: „Es fühlt sich an, als ob jeder verstorbene Syrer ein Verwandter von mir ist. Obwohl ich ihre Gesichter nicht sehe, kommt es mir so vor, als wären wir zusammen in einer Familie aufgewachsen. So ein Schicksal hat der Krieg uns bereitet.“
Vor genau acht Jahren brach in Syrien der Krieg aus: Am 15. März 2011 fanden die ersten Demonstrationen gegen das Regime statt, im April breiteten sie sich dann im ganzen Land aus. Um die Demonstrationen und Aufstände niederzuschlagen, schoss die Armee auf die eigene Bevölkerung. Was dann geschah, ist bekannt. Laut einem Bericht der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte von März 2018 wurden während des Syrienkrieges rund 353.900 Personen, darunter 106.000 Zivilisten, getötet. Nicht eingerechnet in diese Zahl sind die 56.900 verschwundenen Menschen, von denen angenommen wird, dass sie tot sind.
Die meisten syrischen Toten auf dem Doğançay-Friedhof wurden 2015 und 2016 bestattet. Im selben Jahr wurden der Flüchtlingspakt zwischen Europa und der Türkei geschlossen und die Sicherheitsvorkehrungen zur Verhinderung irregulärer Grenzübertritte in der Ägäis erhöht. Der türkischen Küstenwache zufolge kamen allein in den Jahren 2014 bis 2016 471 Geflüchtete in türkischen Gewässern ums Leben.
„Bei den meisten der im Meer Ertrunkenen ist die Identität ungeklärt. Entweder die Angehörigen haben die verstorbenen Verwandten nicht gefunden, oder sie können nicht herkommen, weil sie längst in Europa sind“, erzählt Abbas. Die wenigen Syrer, die die Gräber ihrer Angehörigen auf dem Friedhof besuchen, wissen das, und beten auch an den anonymen Grabstätten, sagt er.
In den ersten Jahren des Kriegs in Syrien verloren viele Menschen ihre Angehörigen und Freunde auf der Flucht über das Ägäische Meer. Eine Gruppe von Friedensaktivisten in Izmir gründete damals die Plattform vermisster Geflüchteter, um den Menschen zu helfen, ihre Angehörigen wiederzufinden. Die Gruppe veröffentlicht Vermisstenmeldungen der gesuchten Geflüchteten. Fidel Kaya, einer der Gründer der Plattform, berichtet, dass die Zahl der Vermisstenmeldungen im vergangenen Jahr deutlich zurückgegangen sei.
Das liegt daran, dass sich die Fluchtroute vom Ägäischen Meer an den türkisch-griechischen Grenzfluss Evros verschoben hat. Außerdem sind viele Geflüchtete inzwischen in der Türkei sesshaft geworden.
In Syrien war er Bauer, nun bestattet er Tote
Şeho Abbas steht am Grab eines Säuglings und betet. Gut ein Jahr ist es her, dass hier ein Baby namens Muhammed bestattet wurde: Geburtsdatum 16. 3. 2018, Todesdatum am selben Tag. Nachdem Abbas sein Gebet beendet hat, säubert er die Erde auf dem Grab von kleinen Zweigen und Gestrüpp. „Als wir hierherkamen, war meine Frau schwanger. Auf dem Weg haben wir viele Frauen getroffen, die eine Fehlgeburt hatten. Wir hatten deshalb große Angst, unser Kind zu verlieren. Unsere Tochter ist jetzt acht Jahre alt“, erzählt er und richtet sich auf. Abbas’ Tochter Maher geht nicht zur Schule, weil ihre Eltern sich den Schulbesuch nicht leisten können. Türkisch zu sprechen hat sie nicht gelernt, sie verbringt den ganzen Tag mit ihrer Mutter zu Hause.
Die Kinder von syrischen Geflüchteten, die in der Türkei auf die Welt kommen, werden bei den Behörden als „staatenlos“ registriert. Laut der türkischen Einwanderungsbehörde wurden zwischen 2011 und 2019 etwa 410.000 syrische Kinder in der Türkei geboren. Juristen, die für die Flüchtlingsorganisation Halkların Köprüsü Derneğiarbeiten (Verein Brücke der Völker), fordern in einem 2018 veröffentlichten Bericht, dass das Problem der Staatenlosigkeit dringend gelöst werden müsse. Es sei von existenzieller Bedeutung, dass statt des „Abstammungsrechts“, bei dem die Staatsangehörigkeit ausschließlich vom türkischen Elternteil weitergeben wird, das Recht nach dem Geburtsortprinzip zur Grundlage des türkischen Staatsangehörigkeitsrechts gemacht wird, um den Kindern der Geflüchteten ein sicheres Leben zu ermöglichen.
Abbas klopft den Staub von seiner Mütze, den die Erde vom Grab des kleinen Muhammed dort hinterlassen hat, und erinnert sich an die Ereignisse in Syrien vor genau acht Jahren: „Wir haben gar nicht verstanden, was los ist, auf einmal wurden unsere Dörfer bombardiert. Wir verließen unsere Häuser und machten uns auf den Weg. In meinem Dorf war ich Bauer. Jetzt bestatte ich Tote in dem Boden, den ich bearbeite. Das tut mir in der Seele weh.“
*Der Name wurde von der Redaktion geändert
Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş
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