piwik no script img

Millionen krabbeln in der Käsekiste

Das internationale Projekt „Arche des Geschmacks“ will rund 4.900 Lebensmittel bewahren. Das Motto des Konzepts heißt: „Essen, was man retten will“. Ziel ist es, existenzbedrohte regionale Spezialitäten bekannt zu machen und durch Nachfrage wiederzubeleben

Von Annette Jensen

Jeden Tag öffnet Helmut Pöschel seine sieben Munitionskisten und kippt Roggenmehl hinein. In den unbehandelten Holzkisten ist es dunkel, feucht und etwa 15 Grad warm. „Da drin leben mehr Milben als Menschen in China“, sagt der 73-Jährige. Früher hat er Kindern Biologie und Chemie beigebracht, jetzt betreibt er in der Nähe von Zeitz mit Leidenschaft die Würchwitzer Milbenkäse Manufaktur mit angeschlossenem Museum. Das Rezept für seinen Käse stammt aus dem Mittelalter, Pöschel hat es ebenso wie die Kisten und ihre Bewohner von seiner Mutter und Großmutter übernommen.

Zuerst trocknet er Magerquark aus Kuh-, Schafs- oder Ziegenmilch, bis er krümelig wird, aber trotzdem noch zusammenhält. Den genauen Zeitpunkt zu erwischen ist wichtig: Ist der Quark noch zu weich, bleiben die Spinnentiere daran kleben – ist er schon zu hart, können sie ihre Beißwerkzeuge nicht hineingraben. Pöschel reichert die Masse mit Gewürzen an, formt Rollen und Birnen und legt sie in die Kisten. Zwischen drei und zwölf Monate haben die achtbeinigen Tiere nun Zeit, daran zu nagen. Ihre Ausscheidungen sind es, die die Fermentation und Reifung des Käses bewirken. Damit die Milben den Käse nicht völlig auffressen, füttert Pöschel sie täglich mit Mehl, sodass etwa die Hälfte des Käses für den menschlichen Konsum übrig bleibt. Den verkauft Pöschel an Interessenten aus aller Welt, die in den kleinen Ort Würchwitz in Sachsen-Anhalt kommen oder übers Internet. Die besonders alten Sorten sind fast schwarz und kosten 50 Euro pro Stück, doch auch für 6,49 Euro kann man schon einen kleinen, runden „Himmelskometen“ bekommen.

Mit dem bloßen Auge sieht der Inhalt der Kisten wie ein Paniermehllager aus. Gern lässt Pöschel seine Besucher aber auch mal durch sein Mikroskop gucken, damit sie die Tierchen in der Größe eines Mohnkorns intensiv betrachten können: Aus deren gepanzerten Körpern stechen borstige Haare hervor, langsam bewegen sie ihre plumpen, gliedrigen Beine. Dass dieser Anblick manche vom Käseverzehr abschreckt, nimmt Pöschel in Kauf. Mit Genuss erzählt er, dass beim Verzehr eines einzigen Käses auch etwa 100.000 Milben mitverspeist werden. Die EU habe den Verkauf seines Lebensmittels ganz offiziell genehmigt, während die Hygienebehörde der DDR das verboten hatte. Sogar im Weltraum seien seine Milben schon gewesen – und aphrodisierend für Männer wie Frauen gleichermaßen wirke sein Produkt auch noch, erzählt Pöschel.

Der Würchwitzer Milbenkäse ist eines von 4.900 Lebensmitteln, die das internationale Projekt „Arche des Geschmacks“ bewahren will. Das Motto des Slowfood-Konzepts heißt: „Essen, was man retten will“. Ziel ist es, existenzbedrohte regionale Spezialitäten bekannt zu machen und durch Nachfrage wiederzubeleben.

In Deutschland entscheidet eine vierköpfige Arche-Kommission, ob neue Passagiere aufgenommen werden. Etwa zehn Vorschläge treffen jedes Jahr bei dem Gremium ein, berichtet der Leiter des Gremiums Gerhard Schneider-Rose. Meist melden örtliche Slowfood-Gruppen einen Kandidaten, aber auch alle anderen können Hinweise geben. Die Chance, aufgenommen zu werden, haben sowohl traditionelle Nutztierrassen sowie Gemüse- und Obstsorten als auch handwerklich verarbeitete Lebensmittel, die sich durch eine einzigartige geschmackliche Qualität auszeichnen und eine historisch überlieferte Bedeutung für die Region haben. Ein wichtiges Kriterium für das Votum der Kommission ist außerdem, ob Interessierte die Chance haben, das Lebensmittel zu probieren. „Wenn es nur noch zwei Apfelbäume von einer Sorte gibt, ist es schwierig. Für uns interessanter sind Fälle, wo es noch tausend Bäume existieren oder ein Bestand zu vergreisen droht“, erklärt Schneider-Rose.

Das Rote Höhenvieh, von dem es in verschiedenen Mittelgebirgsregionen noch Restbestände gibt, konnte 2015 in die Slowfood-Arche einsteigen. Die Kühe mit rotbraunem Fell und weißer Schwanzspitze waren früher weit verbreitet, weil sie nicht nur Milch und Fleisch liefern, sondern sich auch gut als Arbeitstiere auf dem Acker einsetzen lassen. Doch Trecker und Hochleistungsrassen verdrängten die kräftigen Rinder mit den harten Klauen und führten dazu, dass das Rote Höhenvieh unwiederbringlich zu verschwinden drohte.

Auch der Laufener Landweizen konnte gerade noch vorm Aussterben gerettet werden. Zu verdanken ist das einem Landschaftsökologen, der Mitte der 1970er Jahre 40 Samen in einer Saatbank entdeckt hatte und sie in die Erde brachte. Inzwischen arbeiten einige Bauern, Müller und Bäcker im deutsch-österreichischen Grenzgebiet bei Salzburg eng zusammen und sorgen dafür, dass es wieder Brot aus dem Laufener Landweizen gibt. Die Ausbeute pro Hektar ist weniger als halb so groß wie bei konventionellen Sorten. Dafür aber sind der nussige Geschmack und der extrem hohe Vitamin-A-Gehalt ­herausragend.

Ziel ist es, den Arche-Passagieren eine stabile Grundlage für die Zukunft zu geben. Beim Würchwitzer Milbenkäse scheint das zu gelingen: Seit ein Merseburger Professor ihn vor mehr als zehn Jahren vorgeschlagen hatte, hat das Interesse an Helmut Pöschel und seinem außergewöhnlichen Produkt enorm zugenommen. Inzwischen gibt es einen jungen Geschäftsführer und Produktdesigner, der sich auch um IT kümmert. Sogar Busgesellschaften wollten schon vorbeikommen. Das aber hat Pöschel abgelehnt. „Wir sind ja keine Massenproduktion, auch wenn wir Millionen Mitarbeiter haben.“ Kleinen, interessierten Gruppen dagegen zeigt er seine Wunderkisten gern.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen