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„Systematisch unter den Teppich gekehrt“

Die katholische Kirche vertuscht seit Jahren sexuellen Missbrauch, kritisieren Opfervertreter. Sie fordern Aufklärung und Unterstützung

Francesco Zanardi, 48, ist Präsident der italienischen Nichtregierungsorganisation „Rete l’Abuso“ (Netzwerk Missbrauch)

Interview Michael Braun

taz: Herr Zanardi, Italien gilt als das Stammland des Katholizismus, mit einer enorm hohen Anzahl von Klerikern. Dennoch hat es hier nie große Missbrauchsskandale gegeben wie etwa in Irland, den USA oder Deutschland. Benehmen sich in Italien die Kleriker einfach besser?

Francesco Zanardi: Wir kommen hier auf 36.000 Priester. Leider ist das Bild aber keineswegs besser als in anderen Ländern. In Italien hat die Kirche das Glück, dass der Staat wesentlich toleranter ist. Ich war am 22. und 23. Januar zu einer Anhörung in Genf bei der UN-Kommission für Kinderrechte, um über die Komplizenschaft des italienischen Staates bei kirchlichen Missbrauchsfällen zu reden. Anwesend war dort auch eine Delegation der italienischen Regierung, die zu den von der UNO formulierten Vorwürfen geschwiegen hat, Italien schütze die Opfer nicht angemessen.

Warum haben Sie sich an die UNO gewandt?

Ich bin der Präsident der einzigen Opferorganisation in Italien. Und ich bin selbst Missbrauchsopfer. Zehn Jahre lang haben wir uns in Italien bemüht, etwas in Bewegung zu setzen. Aber ohne Erfolg. Deshalb gehen wir jetzt auf die internationale Ebene.

Wie erklären Sie sich diesen Widerstand?

Ich denke sofort an die Komplizenschaft zwischen Staat und Mafia, die jahrelang vorherrschte. Ganz ähnlich läuft es zwischen Staat und Kirche. Wir haben zum Beispiel einige Einrichtungen, die als „Gemeinschaften für Priester in schwierigen Lebenssituationen“ dargestellt werden. Wir zählen in Italien etwa 700 Opfer kirchlichen Missbrauchs. All die dafür verantwortlichen Priester verschwanden in diesen Einrichtungen, anstatt im Gefängnis zu landen. 21 solcher Heime gibt es heute in Italien. Dort können die Priester ganz bequem ihre Haft in Hausarrest verbüßen. In der öffentlichen Meinung kommt das Signal an, der des Missbrauchs schuldige Priester werde genauso verurteilt wie jeder andere Täter. Doch in Wirklichkeit bleibt ihm das Gefängnis erspart. Die haben dort Fernsehen, Internet, Bewegungsfreiheit. Im letzten Jahr sorgte ein zu 15 Jahren verurteilter Priester für Aufsehen, der mal eben mit dem Taxi von Rom nach Mailand fuhr, das macht etwa 2.000 Euro. Da fragt man sich schon, woher er das Geld hat.

Wie viele Priester sitzen denn im Gefängnis?

In ganz Italien sind es fünf, und nur einer von ihnen sitzt wegen Pädophilie ein.

Aber Papst Franziskus predigt doch jetzt „Nulltoleranz“.

Wir fühlen uns ehrlich gesagt auf den Arm genommen. Denn in Italien hat sich nichts geändert, und das 20 Jahre nach dem Ausbruch der kirchlichen Missbrauchsskandale in den USA. Es gibt in Italien bisher kein einziges Opfer, das von der Kirche entschädigt worden ist. Nur für ein einziges Opfer hat die Kirche die Kosten einer psychologischen Behandlung übernommen. Und weiterhin erstatten die Bischöfe keine Strafanzeige, wenn sie von Missbrauchsfällen im Klerus erfahren. Aber 21 Betreuungsheime für die Täter errichten: das haben sie hinbekommen!

Noch einmal zurück zur Rolle des Staates. Was sieht eigentlich das Konkordat vor?

Das Konkordat befreit Kleriker explizit von der Pflicht, Verbrechen anzuzeigen, von denen sie im Rahmen ihrer kirchlichen Tätigkeit erfahren haben, oder auch der Justiz für deren Ermittlungen relevante Dokumente zur Verfügung zu stellen. Mehr noch: Wann immer ein italienischer Richter gegen einen Priester ermittelt, muss er umgehend den zuständigen Bischof informieren. Die Kirche ist also sofort im Bilde, und oft auch der Verdächtige.

Wurde denn vonseiten des Staates in den letzten Jahren irgendetwas zur Aufarbeitung getan?

Absolut nichts. Es gab keine Kommission, keinen Ermittlungsausschuss, keinen runden Tisch mit Opfern oder Ähnliches. Und bis heute gibt es keinerlei Beratungsstellen, an die sich Pädophilie­opfer wenden könnten. Die Einzigen, die systematisch der Frage nachgehen, sind wir vom „Netzwerk Missbrauch“.

Aber tragen nicht wenigstens die Medien dazu bei, Licht ins Dunkel zu bringen?

Die Rolle der Medien in Italien ist dramatisch. Wir hatten vor einigen Monaten eine Pressekonferenz in Rom. Etwa 50 ausländische Journalisten waren da – und nur zwei Vertreter italienischer Medien. Diese Frage wird systematisch unter den Teppich gekehrt. Gewiss, auch italienische Medien berichten breit über kirchliche Missbrauchsfälle – aber nur dann, wenn sie im Ausland stattgefunden haben.

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