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Ohne Worte

Ein Abend in russischer Gebärdensprache: Der junge Regiestar Timofej Kuljabin istmit seiner gefeierten „Drei Schwestern“-Inszenierung aus Sibirien endlich auch in Berlin zu Gast

Die Liebe ist dahin: Mascha (Daria Jemeljanowa) und ihr Mann Kulygin (Denis Frank) Foto: Foto: Viktor Dmitriev

Von Barbara Behrendt

In Zeiten des Regietheaters, in denen die „Handschrift“ eines Regisseurs zur Marke etabliert werden will, muss man sich schon etwas einfallen lassen, um einen Gassenhauer wie Tschechows „Drei Schwestern“ zum unverwechselbaren Ereignis zu machen. „Überschreibungen“ mit zeitgenössischer Sprache stehen da hoch im Kurs: Simon Stones „Drei Schwestern“ dieser Art wurden 2017 zum Theatertreffen geladen – dieses Jahr hat das Festival kanonisierte Werke nur noch in überschriebener Fassung berücksichtigt. Das Deutsche Theater dagegen hat eine Inszenierung im Programm, in der die Schwestern von Männern mit Puppenmasken gespielt werden.

Am DT zu Gast ist nun die Arbeit des jungen russischen Regiestars Timofej Kuljabin – er leitet das renommierte Theater „Rote Fackel“ in Nowosibirsk und ist mit 15 Schauspielerinnen und Schauspielern angereist: Anderthalb Jahre lang haben sie die russische Gebärdensprache erlernt, um die „Schwestern“ stumm auf die Bühne zu bringen. In Tschechows Heimat, wo Theatergänger den Text halb mitsprechen können, erprobt man noch exotischere Mittel, die „Nach Moskau!“-Seufzer von Olga, Mascha und Irina neu fassbar zu machen.

In Paris und Wien wurde das Gastspiel hymnisch gefeiert – weil es sich, das ist die Überraschung, gerade nicht im exotischen Verfremdungseffekt gefällt. Vielmehr führt die expressive Gestik zu einer starken Gefühlsdichte. Die Schwestern, die in der Provinz feststecken und vom Leben in Moskau träumen, wollen einem nahekommen. Die Geschichte vom Vergessenwerden, von der Trauer um das verschenkte Leben soll unsere werden.

Deshalb lässt Kuljabin das Stück sowohl heute als auch vorgestern spielen. Man trägt altmodische Blusen und Anzüge, tanzt aber zum Videoclip von Miley Cyrus und schickt sich SMS. Zur Überzeitlichkeit gesellt sich eine Gleichzeitigkeit, die das dahinplätschernde Leben abbildet: Auf der Bühne verschiedene Zimmer, vollgestellt mit taubenblauen Möbeln – es trennt sie keine Wand, alle Räume sind einsehbar. Andrei macht Natascha an der Garderobe einen Antrag, während die Gesellschaft im Esszimmer Cognac trinkt und plaudert. Parallele Unterhaltungen, wie im wirklichen Leben, von denen jeweils nur eine (Deutsch und Englisch) übertitelt werden kann.

Zum Zuschauen ist das über vier Stunden (mit drei Pausen) nicht unkompliziert. Man muss sich entscheiden: lesen oder gucken. Wer das handlungsarme Konversationsstück nicht auswendig kann, wird aus den Gesten nicht klug werden und deshalb oft zu den Tafeln blicken. Mit dem Klang der Stimme als Ausdrucksmittel geht eine Ebene verloren.

Die expressiveGestik führt zueiner starken Gefühlsdichte

Wie sehr die Schwestern in ihrer Welt, ihrem Schicksal gefangen sind, symbolisiert das Konzept dagegen vortrefflich. Wenn Baron Tusenbach, dem Irina das Herz gebrochen hat, im Duell stirbt, hört das Publikum den tödlichen Schuss – die Frauen auf der Bühne aber gestikulieren munter weiter. Überhaupt spielen Geräusche eine prägnante Rolle. Türen werden geschlagen, die Musik aufgedreht, bis der brummende Bass auf den Dielen vibriert. Es wird geächzt, gejammert, gelacht, wie das nur Menschen tun, die sich selbst nicht hören und daher nicht kontrollieren. Standuhren schlagen, Militärmusik spielt auf, ein Baby schreit – die Geräusche der Hörenden und die der Gehörlosen erzeugen ein eigenes, dissonantes Zusammenspiel.

Am bezauberndsten gelingt der erste Akt. Da bekommt Irina zum Namenstag den berühmten Brummkreisel geschenkt. Wenn er auf dem Tisch seine bunten Runden dreht, legt die Gesellschaft wie auf Kommando den Kopf auf den Tisch, um dem Surren zu lauschen. Ein wunderbar poetisches Bild. Auch die rabiaten Annäherungsversuche des Arztes, vor dessen Liebeserklärungen Irina verzweifelt in den Kleiderschrank flieht, berühren. Nicht sehen – das bedeutet hier, nicht hören müssen.

Doch umso länger der Abend dauert, desto mehr entwickelt sich das Spiel zu konventionellem russischem Theater. Als kehrten die Spieler immer mehr in ihre eigene Welt zurück. Ein ganz neuer Blick auf das Drama, wie ihn die Wiener und Pariser Presse beschreibt, will sich nicht eröffnen. Die Standing Ovations des Publikums sind trotzdem nur allzu nachvollziehbar – der vom Konzept- und Diskurstheater geplagte Berliner atmet auf, wenn er endlich einmal wieder Menschen auf der Bühne sehen darf. Zu Recht.

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