Ausgehen und rumstehen Von Julia Wasenmüller
: Die Penisse sind politisch

Wir laufen im Nieselregen durch Kreuzberg 61. Auf den Gehwegen liegen schon die ersten rausgeworfenen Weihnachtsbäume. Das bleibt also übrig vom Festtagsglanz: Lamettafäden in siffigen Pfützen. Es ist Freitagabend, und wir sind nur zu zweit. Sonst hatte niemand Zeit. Der Silvesterkater sitzt an einem 4. Januar wohl noch zu tief in den Knochen, oder die Neujahrsvorsätze müssen zumindest die erste Kalenderwoche überleben.

Um kurz vor 11 stehen wir an dem kleinen Eisentor, durch das man runter in die ehemalige öffentliche Toilette steigt. Es ist noch zu – peinlich. Können sie sich ja gleich denken, dass wir nur aus Recherchegründen hier sind. In der Kälte trippeln wir auf den Glasquadraten rum, durch die bereits das flackernde Licht aus dem darunterliegenden Club zu sehen ist. Dort, wo sich früher schwule Männer zum Cruisen trafen, gibt es seit knapp einem Jahr Musik und Longdrinks unter Kronleuchtern.

Wir drehen noch eine Späti-Runde am Mehringdamm. Die Schlange bei Mustafas Gemüsekebab ist kilometerlang wie immer. Auf die TripAdvisor-Crowd ist auch an einem solchen Freitagabend Verlass. Als wir zurückkommen, steht das Tür­steher*innentrio unter einem kakigrünen Pavillon bereit. Zumindest haben sie einen Heizpilz und müssen sich nicht die ganze Nacht vollregnen lassen. Wir steigen die Treppe hin­ab. Mit drei verschachtelten Räumen für einen Club recht übersichtlich. Muss als Toilette ganz schön was hergemacht haben. Die grünen Klofliesen sind vollgetaggt. Wir sind ja auch in Berlin. Da der Laden leer und die Musik noch nicht richtig aufgedreht ist, setzen wir uns an einen der Holztische und fangen unwillkürlich an, das Getagge zu analysieren. Auf dem Klo wird man aufgefordert, den local pornographer zu supporten, und über dem DJ-Pult hängt ein #besetzen-Sticker. Aber dann gibt es auch Unmengen dieser Peniskritzeleien, die es echt auf der ganzen Welt auf Hauswände und Schultoiletten schaffen: ein universales Symbol, Edding auf Wand, ohne abzusetzen. Aussage: Penis. Ganz schön stumpf. Aber sind diese Penisse an diesem quasihistorischen Ort, wo nicht heteronormativer Sex trotz Verbot stattfinden konnte, plötzlich politisch? Nur, was soll das mit dem 1328? All Cops be high? Vielleicht hat es auch einfach gar keine Bedeutung. Soll es ja auch geben. Dieser Laden überfordert uns und unsere fertigen Schubladen, die das Leben in Berlin sonst so schön einfach machen. Für jede Szene gibt es die passenden Orte, einen unverkennbaren Style und den richtigen Lesekreis: ob Yuppie oder Eso oder linksradikal. Das wird dann noch mal feinsäuberlich aufgetrennt: eher ­Anti-D oder Anti-Imp? Kannste alles haben. Und dann ist es ziemlich gemütlich in der Bubble.

„Also entweder das sind alles Touris oder die kennen sich alle, und wir sind die Einzigen, die zum ersten Mal hier sind“, meint meine Begleitung. Inzwischen ist ziemlich viel Zeit vergangen, und wir werfen einen Blick auf die Tanzfläche. Der kastenförmige Floor ist prallvoll. Gar nicht mitbekommen. Aber das ist der Grund, warum Menschen hierherkommen: um zu feiern und nicht um die Grauzonen ihres Szeneweltbilds zu erkunden. Dicht gedrängt bewegen sich unbekannte, junge, nicht in unsere Kategorien passende Menschen zur Musik. Über ihnen die kleinen gläsernen Quadrate, die Grenze zwischen Underground und Bergmannkiez.

Nur, was soll das mit dem 1328? All Cops be high?

Auf dem Klo trinke ich Wasser aus dem Hahn und wische mir danach mit dem Handrücken den Mund trocken. Dabei bemerke ich ein Bild, das auf meiner Augenhöhe über dem Waschbecken hängt: eine gerahmte Kohlezeichnung von erigierten Penissen, die sich leicht berühren. Endlich, das ist jetzt aber wirklich ein politisches Statement. Am Tag drauf erzähle ich meinen zu Hause gebliebenen Freund*innen von dem Abend. „Ach ja, kenn ich. Voll der coole Laden.“ Vielleicht sollte ich beim nächsten Mal einen Edding mitnehmen und den 1328-Tag korrigieren. Dann weiß man zumindest, wo man dran ist.