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Ein Sisyphosder Demokratie

Selbstkritik wäre aber auch nicht schlecht: Erdoğans Gegenspieler Kemal Kılıçdaroğlu in Berlin

The Wild Pear Tree“, der jüngste Film des türkischen Filmemachers Nuri Bilge Ceylan, mag nicht sein bester sein. Aber als Metapher für die Verhältnisse in der Türkei taugt seine Schlussszene allemal. Verbissen versucht der junge Lehrer Sinan da auf dem harten Boden eines Brunnens mit der Spitzhacke die Quelle freizulegen, die das verdorrte Grundstück seines Vaters doch noch zum Blühen bringt.

In dieser Rolle sieht sich offenbar auch Kemal Kılıçdaroğlu. „Wir haben weder das Recht noch die Möglichkeit, die Hoffnung aufzugeben“, dozierte der Chef der Opposition im türkischen Parlament und Vorsitzende der – noch von Staatsgründer Atatürk gegründeten – Republikanischen Volkspartei (CHP) am Donnerstagabend bei einem Vortrag in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin.

Am Bosporus gebe es keinen Rechtsstaat mehr, so der Politiker; der Ausnahmezustand sei zwar aufgehoben, durch Sondergesetze aber zum Normalzustand geworden, Akademiker und Intellektuelle säßen im Gefängnis, die Presse sei fast komplett unter der Kontrolle des Staates. All diesen Widrigkeiten zum Trotz rollt Kemalbey, dieser Sisyphos der Demokratie, den Stein des legalen Widerstands aber unbeirrt den Berg hinauf.

Für türkische Verhältnisse ist Kemal Kılıçdaroğlu ein Softie. Ohne große Machogesten hat der schmächtige Ex-Beamte seine Partei, bis vor nicht allzu langer Zeit noch eine Hochburg des bornierten Kemalismus, sanft auf linkssozialdemokratischen Kurs bugsiert. Spätestens seit seinem „Marsch für Gerechtigkeit“ von Ankara nach Istanbul im Sommer letzten Jahres trägt der seit 2010 amtierende Oppositionschef, mittlerweile 69 Jahre alt, den Spitznamen „Gandhi“. Für manche ist er gar auf dem Weg zum Märtyrer. Zur Begrüßung in Berlin entrollte ein Anhänger ein gebetsteppichgroßes Knüpfstück mit seinem Konterfei.

In der letzten Zeit hat der Hoffnungsträger freilich Fehler gemacht. Einerseits warb Kılıçdaroğlu auch in Berlin wieder für eine „Vereinigung aller Demokraten“ gegen die Diktatur der AKP. Andererseits ließ er die „Partei der Völker“ des inhaftierten kurdischen Politikers Selahattin Demirtaş bei einem eilends geschmiedeten Drei-Parteien-Bündnis für die vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni außen vor.

Die verlor die CHP, wie fast alle Wahlen unter der Führung Kılıçdaroğlus zuvor. Trotzdem pries er in Berlin seine schwer gerupfte CHP aber als die „größte sozialdemokratische Partei Europas“. Eine etwas selektive Realitätswahrnehmung, die an den Herrn des 1.000-Zimmer-Palastes in Ankara erinnert.

Kritiker, die seine erfolglose Strategie hinterfragen, wurden beim letzten Parteikongress abgebürstet. Die Eliminierung der „Kultur der Kritik“ in der Türkei, die er Präsident Erdoğan vorwirft, fängt offenbar bei Kılıçdaroğlu selbst an. Nichts gegen den Willen dieses aufrechten Demokraten, weiter „mit aller Entschlossenheit“ gegen den Niedergang der Demokratie am Bosporus zu kämpfen. Aber ohne Selbstkritik wird er diesen verdorrten Garten nicht wieder zum Blühen bringen. Ingo Arend

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