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Sie versteht das Verrückte

Großartige autobiografische Literatur: In Merethe Lindstrøms Roman „Aus den Winterarchiven“ über das Leben mit Angst und bipolarer Störung kann man der Autorin beim Denken und Beobachten zusehen

Ihre Sprache fließt in manchmal langen Sätzen: Merethe Lindstrøm Foto: André Løyning

Von Carola Ebeling

Wie lässt sich über eine psychische Erkrankung schreiben, deren Verheerungen für jene, die sie nicht selbst erleben, schwer vorstellbar sind? Bipolare Störung lautet die Diagnose, vielen wird die Bezeichnung als manisch-depressive Erkrankung geläufiger sein.

Hierzulande hat das 2016 Thomas Melle mit seinem Buch „Die Welt im Rücken“ auf eindrückliche Weise getan und dafür viel Lob und Aufmerksamkeit erhalten. Melles Anliegen war es, möglichst exakt über die Krankheit zu schreiben, die sein Leben dominiert. Sie so präzise wie eben möglich zu fassen. Zugleich ist ihm ein überzeugender literarischer Text gelungen.

Aus Norwegen kommt mit „Aus den Winterarchiven“ nun ein weiterer, ebenfalls literarisch beeindruckender Versuch einer Annäherung. Doch ist Merethe Lindstrøms Ansatz ein anderer. Der 1963 geborenen, in Norwegen mehrfach ausgezeichneten Autorin geht es nicht um Exaktheit in der Vermittlung, nicht um eine präzise Aufzeichnung. Und sie schreibt zwar auch über sich selbst – doch die Diagnose Bipolarität hat ihr Mann Mats bekommen. Lange nachdem er daran erkrankt ist.

Lindstrøm erzählt vom Zusammenleben mit einem Menschen, der immer wieder verschwindet, nicht mehr ist: der, körperlich anwesend, nicht mehr erreichbar ist. Auch nicht für sich selbst. „Du bist ohne dich in dir, du bist bodenlos“, so beschreibt sie diesen Zustand einmal.

Vordergründiger Schreibanlass ist der Umzug in ein neues Haus, einsam gelegen. Die Natur ist allgegenwärtig, sie ist eine eigenständige Protagonistin des Buchs, mit der die Autorin in stetigem Austausch steht. Hier soll eine Art Neuanfang möglich sein, Hoffnung will sich behaupten. Seit 18 Jahren sind die beiden ein Paar. Seit so vielen Jahren bestehen sie gemeinsam die Zumutungen und überstehen die Zerstörungskraft dieser Krankheit. Nicht nur als Paar, sondern als Familie, denn sie haben zwei gemeinsame Töchter.

Merethe Lindstrøm: „Aus den Winterarchiven“. Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger. Matthes & Seitz, Berlin 2018, 294 Seiten, 17,99 Euro

„Die Narben sind nicht leicht zu entdecken, die deinen, die meinen, aber ich habe von Anfang an das Gefühl, wir führen etwas zusammen, was man vielleicht nicht zusammenführen sollte, die Schizophrenie deiner Mutter, den Alkoholismus deines Vaters, die Angst meines Vaters, wir sind ein genetischer Code für Unruhe.“ Was ein Hinderungsgrund hätte sein können, ist doch Basis ihrer Verbindung: Lindstrøm kennt die Angst, die alles verschlingen kann, sie hat sie an ihrem Vater gesehen, der oft in psychiatrischen Kliniken war. Sie hat sie selbst erlebt, ihre eigene maßlose Dunkelheit, da war sie ein Mädchen, eine junge Frau.

Sie erkennt das Außerhalb-der-Welt-Sein, das Abseits, in das die verschiedenen Sorten der Angst sie alle gestellt haben: sie selbst, ihren Vater, Mats, seine Mutter. „Ich verstehe das Verrückte, wenn man nicht mehr im Normalen sein kann, wenn es nicht ausreicht.“

Sie nähert sich dem Jetzt, ihrer Angst um ihn, der in den depressiven Phasen oft an Selbstmord denkt, indem sie zurückgeht: in beider Kindheit und das bedeutet auch, zu ihrem Vater und seiner Mutter. Man taucht also ein in andere Zeiten und Leben, welche die Autorin bildhaft und dicht beschreibt.

Ihre Sprache fließt in manchmal langen Sätzen, in denen verschiedene Kontexte assoziativ und nur durch ein Komma verbunden sind. Fragen sind darin, ohne dass es ein Fragezeichen braucht. So meint man, der Autorin beim Denken und Beobachten zuzusehen, ihrem Durchdringen, das den beschriebenen Personen doch nie zu nahe tritt. In der deutschen Übersetzung ergibt das einen klaren und poetischen Ton, den Elke Ranzinger wunderbar zum Klingen bringt.

Es ist ein empathisches Umkreisen. Und ein Bändigen der Gegenwart, in der es oft darum geht, was Mats’ Erkrankung mit ihr, ihrem Leben und dem ihrer Töchter macht

Beobachtungen aus der Schreibgegenwart wechseln sich mit den Rückblicken ab. Es ist ein empathisches Umkreisen. Und ein Bändigen der Gegenwart, in der es oft darum geht, was Mats’ Erkrankung mit ihr, ihrem Leben und dem ihrer Töchter macht: „Du entschwindest ein wenig, täglich entschwindest du ein wenig, uns nimmst du dabei mit, und unsere Gesichter, der Küchentisch, an dem wir sitzen, Teller und Besteck, die Bücher, der mögliche Urlaub, die Notizen, die Tage mit Nieselregen, die Hunde und das Haus verschwinden ein wenig mit dir, werden weggekratzt, ausgekippt, während du aufgibst (…)“.

Einmal wollte sie aufgeben, ihn verlassen: Sie ging zur Bushaltestelle und wieder zurück. „Aus den Winterarchiven“ ist auch das Zeugnis einer starken Liebe. Und großartige autobiografische Literatur.

Sie werden wieder ausziehen aus dem neuen Haus. Sie haben dort Herbst und Winter erlebt. Aber jetzt „Der Frühling: dass es möglich ist, weiterhin zu gehen, einfach weiterzugehen (…) ich bin froh, dass du hier bist, alles noch immer hier ist, dass es ist und weitergeht.“

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