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„Kommen’s rein“

Lange galt: Kleine Lebensmittelgeschäfte haben auf dem Land keine Zukunft. Aber inzwischen öffnen besonders in Bayern immer mehr Dorfläden. Finanziert werden sie überwiegend von den Bewohnern selbst

Peter Böhmer in seinem Dorfladen. Er sagt: „Ohne uns würden viele vereinsamen“ Foto: Maximilian Heim

Aus Farchant und Harthausen Maximilian Heim

Der Chef bedient hinter der Frischetheke seine Kunden, geht ja gut los, wie in einem Imagefilm. Klingt auch so. „Herzlich willkommen in unserem Dorfladen“, sagt Peter Böhmer, hier natürlich „der Böhmer-Peter“, denn wir sind im südlichsten Zipfel Bayerns. Genauer: in der Gemeinde Farchant. 3.600 Einwohner, Landwirtschaft, Tourismus, Tradition. In einem hübschen Haus also, direkt neben dem winzigen Bahnhof, steht dieser vollbärtig-freundliche Mann – und bittet zur Führung über seinen ganzen, auf 130 Quadratmeter verteilten Stolz.

Denn in Farchant ist passiert, was es laut Statistikern und Discounter-Strategen nicht mehr geben dürfte: Mitten im Ort steht seit gut fünf Jahren wieder ein Dorfladen. Draußen haben sie den Slogan „miteinander – füreinander“ an die Wand gepinselt, drinnen wacht ein schlichtes und von keinem CSU-Ministerpräsidenten verordnetes Kreuz aus Holz über die Einkaufenden. Seit einem Jahr gibt es auch einen Mittagstisch, an diesem Tag Schnitzel mit Kartoffelsalat für 6,50 Euro. Am Ende sind 75 Portionen weg. „Alles selbstgemacht“, sagt Böhmer.

Schnitzel zum Mittag

Gerade kommt eine ältere Dame reinspaziert. „Wie geht’s?“, fragt Böhmer, gut, danke, wie bitte, Schnitzel heute zum Mittagstisch, nein, was für ein Glück. Nun aber flugs die Führung, für die man sich nur um die eigene Achse drehen muss. In der Mitte des Ladens steht ein Transportkarren, auf dem Gemüse und Obst aufgebahrt ist. An den Seiten die Regale mit Gewürzgurken, Nudeln, Zahnbürsten. Und direkt neben dem Eingang – dezente Prioritätensetzung – ein kunstvoll aufgetürmter Kistenberg mit Bier aus der Gegend.

Dabei hätten sich vor zehn Jahren viele Leute aus Farchant nicht vorstellen können, dass sie hier eines Tages wieder ganz selbstverständlich ihre Sachen einkaufen können. Seinerzeit hatte das letzte Lebensmittelgeschäft im Ortskern gerade geschlossen, ein anderer Ladenversuch ist gescheitert. Die Züge der Deutschen Bahn fahren zwar durch den schnuckligen Ort, viele Jahre hielten sie aber nicht an. Menschen mit Krawatten halten für eine solche Szenerie das Unwort „strukturschwach“ bereit.

In Farchant kommt es anders. Bei den Zügen hat die Bahn zum Fahrplanwechsel 2010 ein Einsehen. Und um die fehlende zentrale Einkaufsmöglichkeit kümmert sich Böhmer. Er sitzt damals für die Freien Wähler im Gemeinderat – und engagiert den Unternehmensberater Wolfgang Gröll für einen Info-Abend.

Gröll, Anfang 50, hat eine hübsche Nische für seine Tätigkeit gefunden: die Renaissance der Dorfläden. An diesem Tag ist er auch nach Farchant gekommen, macht Fotos mit seinem Smartphone, murmelt was von „Regale umgestellt“ und „Bildmaterial für Präsentationen“. Kurzum: Auch Gröll, schlichtes Jackett, gemütlicher Bauch, ist stolz auf diesen Einkaufsladen im Alpenvorland.

Im Jahr 2008 hat sich der gebürtige Oberbayer als Unternehmensberater selbstständig gemacht. Gröll tingelt durch die Gegend, 90.000 Kilometer im Jahr, unterwegs in Sachen Dorfläden. Am Anfang, sagt er, steht immer eine Bürgerversammlung und die Frage: Wollen wir wieder ein zu Fuß erreichbares Lebensmittelgeschäft?

Bei einem Ja ist die Herangehensweise simpel. „Die Bewohner geben das nötige Geld für den Dorfladen, manchmal kommen Fördermittel dazu“, erklärt Gröll. „Hier in Farchant haben wir ein genossenschaftliches Modell mit rund 270 Anteilseignern“, sagt Böhmer. Ein Anteil liegt bei 200 Euro, manche Bewohner halten mehrere. Das macht – beim Beispiel Farchant – ein Kapital von 76.000 Euro.

Und heute? Ladenchef Böhmer sagt, dass man den Umsatz seit der Eröffnung 2013 fast verdoppelt habe. Obwohl es in unmittelbarer Nähe mit dem Auto erreichbare Discounter gibt. Am besten verkaufen sich regionale Produkte. Fleisch, Wurst, Obst, Gemüse, Honig, Apfelsaft, alles hier aus der Gegend. Momentan werden die Gewinne größtenteils in den Laden reinvestiert und nicht an die Anteilseigner ausgeschüttet. „Die wollen mit ihrem Geld ja in erster Linie erreichen, dass der Laden lebt“, sagt Böhmer.

Deutschlandweit gibt es rund 250 Dorfläden, die von Bürgerinitiativen wie in Farchant getragen werden. Allein in Bayern sind es rund 170. Aber es klappt nicht immer: Einige haben wieder zugemacht, andere schlingern von Jahr zu Jahr. Und in den ersten Monaten schreiben viele Läden Verluste. „Es kann dauern, bis sich alles eingespielt hat und die Leute kommen“, sagt Berater Gröll. Insgesamt seien fünf oder sechs von ihm beratene Läden gescheitert.

In Farchant teilen sich derweil zwei zum Kaffeetrinken vorbeigekommene Damen die Lokalzeitung. Fragt man den hier aufgewachsenen Ladenbetreiber Böhmer, was sein Geschäft dem Ort gebracht hat, muss er nicht lange überlegen. „Ohne uns würden viele vereinsamen. Im Dorfkern ist wieder Leben.“

Manche Kunden holen nur die frischen Sachen im Dorfladen, andere alles

Dabei war bei Böhmer lange nicht absehbar, dass er mal in seinem Heimatort Leberkäse, Eier, Käse und Obst verkaufen würde. Bis 40 arbeitete der gelernte Betriebswirt bei der Sparkasse, wird später Logistiker bei der Ski-WM im nahen Garmisch-Partenkirchen, zwischenzeitlich Hausmeister auf einer Hütte. Ein Suchender. Nun aber, sagt Böhmer, „bin ich angekommen, wo ich hingehöre“. Er muss wieder hinter die Theke, das Mittagsgeschäft zieht an.

„Der Böhmer macht das gut“, findet Berater Gröll, während er ein Schnitzel verspeist. „Er hält sich an die Erfolgsformel – die Grundnahrungsmittel nicht teurer als im Supermarkt, dazu viel frische Ware und viel Regionalität.“ Inzwischen arbeiten in Farchant zwölf Mitarbeiterinnen und ein Mitarbeiter. Gröll sagt, er rate den Ladenbetreibern, sich in Supermärkten nach guten Leuten umzusehen und sie direkt abzuwerben. „Familiäres Umfeld, enger Kontakt zu den Kunden, keine hässlichen Tricks bei der Zeiterfassung – was will man mehr?“

Groll will nun noch ein paar weitere Erfolgsprojekte vorzeigen, wir fahren mit dem Auto los, parken schließlich auf den Parkplatz neben dem alten Feuerwehrhaus in Harthausen. Rund 800 Menschen leben in der Gemeinde ein gutes Stück südöstlich von München. Vor 14 Jahren hat hier der letzte Metzger geschlossen, danach war man in Sachen Einkaufen ohne Auto endgültig aufgeschmissen. Bis sich die Floristin Johanna Mayer ein Herz fasste. Ihr aufwändig dekorierter Dorfladen läuft inzwischen seit Jahren gut. Sie nimmt keine neuen Anteilseigner mehr auf. Und ist an diesem Tag quasi schon im Feierabend. Eine Frau kommt rein. „Oh, schon zu?“ – „Ja, aber was brauchen’S denn?“ – „Einen Quark.“ – „Kommen’S rein.“

Auch Johanna Mayer erzählt, dass der Laden die kleine Gemeinde lebenswerter gemacht habe. Manche ihrer Kunden holen nur die frischen Sachen bei ihr, andere machen den gesamten Einkauf, besonders die Älteren. Morgens macht sie schon um 7 Uhr auf, die ersten Harthausener kommen dann auf einen Kaffee und eine Brezel. Nach der Mittagspause schauen Eltern mit ihren abgeholten Kindern vorbei. Rasch was fürs Abendessen besorgen. Oder Süßigkeiten.

Tatsächlich, erzählt Gröll noch, gibt es häufig Skepsis von unerwarteter Seite. Denn oft seien die Bürgermeister vor Ort zunächst nicht begeistert. „Weil die selbst die guten Ideen haben wollen“, behauptet der Berater. Und erzählt, wie er mal in einem bayerischen Bergdorf den skeptischen Bürgermeister bei einer Info-Veranstaltung vor Publikum als „Bürgerlehrling“ bezeichnet hat. Weil der nicht kapiert habe, was seine eigenen Wähler gerne hätten, nämlich eine zentrale Einkaufsmöglichkeit. „Der Laden kam“, sagt Gröll und macht eine genussvolle Pause. „Und der Bürgermeister wurde nicht wiedergewählt.“

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