Auf Lesereise gegen Putin und den Islam

Die Journalistin Julia Latynina wird als mutige Putin-Kritikerin verehrt, führt aber ebenso einen Kreuzzug gegen Linke, Migranten, Menschenrechtler und das allgemeine Wahlrecht. Derzeit tourt sie durch den Norden, am Samstag ist sie in Hamburg zu Gast

Gehörte einst zu den prominentesten liberalen Stimmen gegen Putin: Julia Latynina Foto: Sergej Nechljudow/Wikimedia Commons

Von Ewgeniy Kasakow

Sie sei Putin-Kritikerin, dafür attackiert worden und unter anderem für ihren „Einsatz für die Menschenrechte“ ausgezeichnet – so bewirbt ein Hamburger Kulturveranstalter die Auftritte der russischen Schriftstellerin Julia Latynina. Mit Lesungen, die sich hauptsächlich an die russischsprachige Diaspora-Community richten, tourt sie derzeit durch ganz Deutschland und dieser Tage auch durch den Norden. Wenig Beachtung allerdings finden dabei Latyninas extrem rechten politischen Äußerungen: über das Übel des allgemeinen Wahlrechts, die Gefahren des Islam sowie die Morde des Rechtsterroristen Anders Breivik.

In der Tat hat Latynina ein umfangreiches Opus wie eine beachtliche Liste an Ehrungen vorzuweisen. Die 1966 in Moskau geborene Tochter einer bekannten Literaturkritikerin und eines ebenso bekannten Dichters hat sich bereits in der 1990er-Jahren einen Namen als Journalistin gemacht, ebenso wie als Autorin antiutopischer Science-Fiction-Romane und von Krimis, die aus dem Leben der russischen Wirtschafts­eliten erzählen.

Ihr Auftreten ist forsch: kaum ein Ereignis der Welt, zu dem sie nicht einen prägnant formulierten Kommentar abgeben könnte. Latynina gehörte zu den prominentesten Stimmen des liberalen Lagers. War sie in den ersten Putin-Jahren dem neuen Präsidenten und seinem Machtapparat noch wohlgesonnen, spezialisierte sie sich mit der Zeit auf Spekulationen über die Machenschaften der russischen Geheimdienste und Warnungen vor dem Untergang der westlichen Welt.

In den letzten Jahren wurde sie dafür regelmäßig beschimpft, es häuften sich Drohungen und Angriffe auf die Journalistin. Mal wurde Latynina auf der Straße ein Eimer mit Fäkalien über den Kopf gekippt, mal wurde sie mit Tomaten beworfen. Im Juli 2017 klagte sie über einen Angriff mit einem unbekannten übelriechenden Gas auf ihr Haus, im September desselben Jahres wurde ihr Auto angezündet. Daraufhin verließ Latynina Russland – ihren aktuellen Wohnort gibt sie nicht preis. Sie arbeitet weiterhin für russische Medien und meldet sich regelmäßig im Internet zu Wort.

In den vergangenen Jahren hagelte es Auszeichnungen, internationale Journalistenpreis und zuletzt den Kamerton-Preis der Russischen Journalisten-Union für ihren Einsatz für Menschenrechte und Pressefreiheit. Vor allem erhielt sie 2008 den „Freedom Defenders Award“ des US-Außenministeriums. US-Außenministerin Condoleezza Rice überreichte ihr damals die Auszeichnung.

Doch während die Ehrungen das Bild einer mutigen Freiheitskämpferin und Menschenrechtsaktivistin zeichnen, wollen ihre Positionen in vielen Fragen dazu nicht passen. Schon vor Jahren waren sie mindestens ungewöhnlich. So nahm sie den bei der liberalen Opposition in Russland besonderes verhassten tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow immer wieder in Schutz. Menschenrechtler machen Kadyrow für Entführungen, Folter und die Tötungen von Zivilisten verantwortlich. Seit 2007 herrscht er in Tschetschenien – mit Unterstützung Putins und als sunnitischer Muslim.

Beides steht eigentlich in Kontrast zu Latyninas Gegnerschaft zu Putin wie zu ihren ständigen Warnungen vor den Gefahren des Islams. Wer sich jedoch die Mühe macht, Latyninas Romane zu lesen, dem öffnen sich ganz eigene Einsichten in die Art ihres Kaukasusbildes: Edle Krieger sind die Tsche­tschenen darin, die klassische maskuline Tugenden nicht verlernt haben und gegen die korrupten und versoffenen Vertreter des russischen Staates jedes Kräftemessen gewinnen.

Man könnte in dieser Darstellung eine Neuauflage des Klischees der „edlen Wilden“ sehen, die eine angebliche Unverdorbenheit gegenüber der Zivilisation romantisiert – würde Latynina die Welt ansonsten nicht sehr klar aufteilen: in zivilisierte Länder einerseits und böse Horden von ganz und gar nicht edlen Wilden andererseits, die Freiheit und Wohlstand gefährden.

Inzwischen entwickelte sich Latynina zu einer Adeptin von Ayn Rands Libertarismus, bei dem dem Markt möglichst keine Grenzen zu setzen seien und einem Sozialdarwinismus das Wort geredet wird. Latynina kritisiert das allgemeine Wahlrecht, das ihr als eine Gefahr für die Demokratie gilt, weil dadurch die Steuerzahler einer Tyrannei der Wohlfahrtempfänger ausgeliefert seien. Die Leistungsträger finanzierten mit ihren Steuern „arbeitslose Junkie-Frauen mit fünf Kindern“, wie Latynina in einem Artikel erklärte. Wer verneine, dass „jeder arbeitslose Bastard“, der einen Laden plünderte, „genau der Kerl sein soll, der entscheiden sollte, wie wir alle leben sollen“, werde Faschist genannt, erklärte sie weiter zu ihrer ablehnenden Haltung zum allgemeinen Wahlrecht.

In den letzten Jahren haben sich ihre Ansichten weiter radikalisiert: Der Klimawandel sei eine Erfindung der globalen Bürokratie und der Wissenschaftsfunktionäre. Der Kampf für Menschenrechte solle ursprünglich von kommunistischen Agenten und frustrierten Intellektuellen losgetreten worden sein und sorge heute vor allem für die Abschaffung westlicher Werte. Sozialdemokratische Bürokratie habe eine jahrhundertelange europäische Tradition erstickt, während die warnenden Stimmen, wie die eines Thilo Sarrazins, von der „mentalen Epidemie“ der Political Correctness übertönt würden.

Latyninas Ehrungen passen nicht so recht zu ihren Positionen: Die US-Außenministerin Condoleezza Rice überreicht Latynina 2008 den „Freedom Defenders Award“Foto: USA Gov/Public Domain

Sogar über das südafrikanische Apartheid-Regime sagte sie, es sei wegen Aspekten der Selbstverwaltung für Schwarze nicht alles schlecht gewesen. Spätestens jedoch, seit sie sich im Juli 2011 in einer Sendung des Radiosenders „Echo Moskwy“ über den Massenmord von Anders Breivik äußerte, begannen auch Vertreter der liberalen Opposition sich von Latynina zu distanzieren.

Der Rechtsterrorist Breivik hatte am 22. Juli 2011 in Oslo eine Bombe gezündet und danach auf der Insel Utøya 77 Menschen aus einem Zeltlagers der Jugendorganisation der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei getötet. Für Latynina illustrierten die Vorkommnisse eine Selbstschwächung des Westens. Sie sah ihre These über die Degradation von Europa dadurch belegt, dass die norwegischen „zukünftigen Anführer“ angeblich keine Versuche unternahmen, den Attentäter zu entwaffnen.

Latyninas Kollegen aus verschiedenen Medien nannten ihre Ansichten offen menschenfeindlich und rassistisch. Einen Abbruch ihrer journalistischen Tätigkeit bewirkten diese Äußerungen jedoch nicht. Sie schrieb weiterhin für die eigentlich eher linksliberale Zeitung Nowaja Gaseta und führte ihre wöchentliche Sendung beim Radiosender „Echo Moskwy“ weiter.

Nach wie vor prangerte sie die russische Politik an und machte sich über den angeblichen Dilettantismus der Geheimdienstler lustig. Als sie sich 2012 für Pussy Riot einsetzte, kritisierte Latynina ihre feministische Agenda zugleich scharf und machte klar, das einzig Wichtige sei zurzeit die Opposition gegen Putin.

Mit ihrer aktuellen Lesereise scheint sie sich die russische Diaspora als Publikum erschließen zu wollen. Termine in ganz Deutschland, wie in dieser Woche auch in Norddeutschland, stehen auf dem Plan.

Lesung: Sa, 27. 10., 18.30 Uhr, Hamburg, Evangelisch-Reformierte Kirche, Palmaille 2