: So steht’s um die Inklusion
Wie gut sie funktioniert, hängt stark vom Wohnort der Schüler ab
Von Birk Grüling
2009 fiel der Startschuss zur schulischen Inklusion. Damals unterschrieb Deutschland nach langem Zögern die UN-Behindertenrechtskonvention. Das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung wurde damit als Menschenrecht erkannt und die Inklusion ein bundesweites Bildungsziel. Alle Schüler – ob mit oder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf – haben seither das gleiche Recht, eine Regelschule zu besuchen. Das gilt sowohl für die Grund- als auch für die weiterführenden Schulen.
Doch auch fast zehn Jahre nach dem Startschuss läuft die Inklusion immer noch schleppend. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung. Der Anteil von Schülern, die an einer Förderschule unterrichtet werden, sank bundesweit seit 2008 von 4,9 auf 4,3 Prozent. Allerdings gibt es große regionale Unterschiede: Bremen hatte im Schuljahr 2016/17 mit 1,2 Prozent den niedrigsten Anteil von Förderschülern, Mecklenburg-Vorpommern mit 6 Prozent den höchsten. In Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz stiegen die Schülerzahlen an den Förderschulen sogar.
Doch es gibt nicht nur regionale Unterschiede. Auch die Behinderung entscheidet über die schulische Inklusion. So ist der Inklusionsanteil bei Kindern mit Lernschwierigkeiten oder sprachlichem Förderbedarf besonders hoch. Bei Schülern mit sozial-emotionalem Förderbedarf – zum Beispiel Autismus – ist die Entwicklung laut der Bertelsmann-Studie gegenläufig. Sie werden häufiger in einer Förderschule beschult als noch 2008. Gleiches gilt auch für die Förderschwerpunkte „Geistige Entwicklung“ und „Körperliche und motorische Entwicklung“.
Entsprechend deutlich fällt auch die Kritik von Studien-Autor Klaus Klemm aus. Aus seiner Sicht kommt das deutsche Bildungssystem bis heute dem UN-Inklusionsgebot nicht ausreichend nach. Wirklich verwunderlich ist das nicht. Ein selektives Schulsystem hat hierzulande Tradition. Gemeinsames Lernen gab es lange nur an Grund- und Gesamtschulen. Und selbst hier waren Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf bis zum Start der Inklusion die Ausnahme. Für Schüler mit Behinderung gab und gibt es Sonderschulen, spezialisiert auf körperlich-motorische Einschränkungen, geistige Behinderung oder eine Hörschädigung.
An diesen Förderschulen werden die Kinder in kleinen Lerngruppen von Sonderpädagogen unterrichtet, oft in Doppelbesetzung. Dazu gibt es Unterstützung von Therapeuten und Pflegekräften. Barrierefreiheit und Pflegeräume sind kein Problem. Das sind Bedingungen, von denen die meisten Regelschulen nur träumen können.
Es fehlt an zusätzlichen Lehrkräften, Sonderpädagogen und Schulbegleitern, barrierefreien Schulgebäuden und Fortbildungen für Pädagogen vor Ort. Angesichts der fehlenden Unterstützung verwundert auch die teils noch große Skepsis gegenüber der Inklusion – seitens der Lehrer und seitens der Eltern – kaum.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen