Medizinerin über männliche Sexualität: „So einfach ist das nicht“
Eine Studie zeigt, dass einige schwule Männer ein Hetero-Leben führen. Kathleen Herkommer über den Unterschied zwischen sexueller und gelebter Identität.
taz: Frau Herkommer, Ihre Studie zur Diskrepanzen in der sexuellen Orientierung von Männern ist jüngst erschienen. Diese haben Sie im Rahmen einer Langzeitstudie zu Prostatakrebs untersucht. Für einen Laien erschließt sich der Zusammenhang nicht gleich. Was hat die sexuelle Identität mit der Prostata zu tun?
Kathleen Herkommer: In der der Medizin gibt es widersprüchliche Ergebnisse darüber, ob sich sowas wie Masturbation, die Anzahl der Sexualpartner oder Ähnliches auf eine mögliche Prostataerkrankung auswirkt. Insofern spielt das Sexualverhalten eine Rolle. Wie sich das genau auswirkt, kann ich noch nicht sagen. Das weiß ich erst in fünf bis 10 Jahren. Zur sexuellen Orientierung haben wir uns die Daten jetzt getrennt angesehen und gefragt: „Wie sieht's eigentlich aus?“ Damit können wir eine Grundlage mit bevölkerungsbasierten Ergebnissen schaffen.
Was heißt bevölkerungsbasierte Ergebnisse?
Das sind nicht einfach Telefoninterviews, sondern wir haben unsere Probanden über die Einwohnermeldeämter rekrutiert. Die Studie dient einem allgemeinen Interesse, es sind vier unterschiedliche Studienzentren beteiligt. In der Auswahl haben wir alle Regionen erfasst: die städtische Bevölkerung, Land, Nord, Süd.
In Ihrer Studie haben Sie die sexuelle Orientierung von mittelalten Männern untersucht. Sie sind alle 45 Jahre alt. Warum haben Sie diese Altersgruppe in ihrem Studiendesign ausgewählt?
Das liegt an der Probase-Studie zum Prostatakarzinom, in die diese Teilstudie eingegliedert ist. Die feste Altersgruppe hat den Vorteil, dass sie ein homogenes Kollektiv ist. Andere Studien haben sonst eher jüngere oder ältere Männer untersucht. Die Männer im mittleren Alter haben ihre sexuelle Identität vielleicht eher schon gefunden.
befindet sich im selben Alter wie die männlichen Studienprobanden. Sie leitet die Abteilung Andrologie am Klinikum an der Isar, welches zur TU München gehört. Sie forscht in den Bereichen sexuelle Funktionsstörungen und zu Prostatakarzinomen.
Darauf hätte ich Sie jetzt auch angesprochen. Kann man davon ausgehen, dass Männer mit 45 Jahren ihre sexuelle Identität schon gefunden haben?
So einfach ist das auch wieder nicht. Die Forschung geht davon aus, dass sich die sexuelle Identität tendenziell in der frühen Pubertät ausbildet. Aber das ist auch veränderbar. Homosexualität kann auch im Erwachsenenalter hervortreten. Ein Teil derjenigen Männer in der Studie sind homosexuell, sie haben aber auch mit Frauen Sex. Einige sind mit Frauen verheiratet und haben Kinder. Leben diese Männer in Heterobeziehungen und wollen sich nicht outen? Vielleicht haben sie Angst? Das weiß man nicht. Da kann ich jetzt auch nur mutmaßen.
Die Studie „Concordance and Disconcordance of Sexual Identity, Sexual Experience, and Current Sexual Behaviour in 45-Year-Old-Men: Results From the German Male Sex Study“ ist im September 2018 in der Fachzeitschrift Sexual Medicine erschienen. Die Stichprobe umfasst über 12.000 Männer im Alter von 45 Jahren. Davon gaben 95 Prozent an, hetero zu sein. Knapp 4 Prozent gaben an, homosexuell zu sein und etwa ein Prozent gab an, bisexuell zu sein. Besonderen Fokus wurde auf die Gruppe der homosexuellen Männer gelegt. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass sechs Prozent derjenigen Männer, die sich selbst als homosexuell bezeichnen, ein heterosexuelles Leben führen. Einige haben noch nie mit einem Mann geschlafen. (agr)
Die Männer in Ihrer Studie, die zu der Gruppe gehören, sind sozial gut aufgestellt – und sie können ihre Homosexualität klar benennen. Warum unterdrücken diese Männer das?
Wie gesagt, ich kann da selbst nur mutmaßen. Es kann viel dahinterstecken: Die Sorge um den Arbeitsplatz, um die Reaktion der Freunde, die Erziehung. Heute ist es liberaler, es gibt Outings von Promis oder im Fußball. Aber als diese Männer im jungen Erwachsenenalter waren, war das kritischer. Es bestehen unter Umständen Ängste, die sie da geprägt haben. Und man muss ja auch sagen, nicht jeder ist da loyal.
Wie meinen Sie das?
Es gibt Leute in der Gesellschaft, die Homosexualität kritisch sehen.
Welche Folgen kann das für den Einzelnen haben, wenn man seine sexuelle Identität unterdrückt?
Welche Folgen das in Bezug auf Prostataerkrankungen hat, kann ich noch nicht sagen. Aber es kann Folgen für die Funktionalität von Personen haben. Das heißt: psychische Probleme, aber auch Erektionsstörungen oder Ejakulationsstörungen. Genaueres hinsichtlich der Prostata haben wir noch nicht untersucht. Es wird Teil einer Folgestudie sein.
Könnte es auch sein, dass ein Teil derjenigen, die in Ihrer Studie angegeben haben, homosexuell zu sein, aber in ihrer Lebensweise nicht damit übereinstimmen oder sogar nur mit Frauen schlafen, bisexuell sind?
Das können wir nicht ausschließen. Wir haben zum Beispiel nicht erhoben, inwiefern jemand sich eher oder gar nicht mit einer der drei Kategorien identifiziert. Also ob jemand eher homosexuell ist mit einer bisexuellen Neigung zum Beispiel. Unsere Studie ist aber auch nicht als Sexualitätsstudie angelegt, sondern als Teil der Langzeiterhebung zur Erforschung von Prostatakarzinomen.
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