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Beim Friseur mit Merkel

Das Theater in Lübeck traut sich auch mal was – muss aber regelmäßig um Geld betteln

Von Friederike Grabitz

Frischer Essensduft weht hinauf in den dritten Rang, im Parkett machen Schauspieler einen Table-Dance und mutige Zuschauer dürfen sich auf der Bühne von einem echten Friseur die (echten) Haare schneiden lassen. Aufgetischt wird für Merkel, Kohl und Berlusconi. So kann es aussehen, wenn ein Theater in der Provinz 2015 den „Tannhäuser“ inszeniert. Wie sich herausstellte, war das Lübecker Publikum provinzieller als sein Theater und pfiff Regisseur Florian Lutz am Ende der Premiere kollektiv aus.

Überregional wurde das Stück dagegen viel und positiv rezensiert. Auch andere große Wagner-Inszenierungen in dem Jugendstil-Haus zogen Publikum aus anderen Städten an, besonders der Nibelungen-Ring mit seinen Vierstunden-Epen. In der Spielzeit 2016/2017 setzte Lübeck mit „Die Reise nach Reims“ neue Standards. Die Rossini-Oper, deren Handlung über fast drei Stunden nicht richtig in Fahrt kommt, wird zum Subtext einer parallelen Geschichte, erzählt in aufwendigen Comic-Projektionen. Das Stück war eine Zusammenarbeit mit Kiel und nur eine Spielzeit lang in Lübeck zu sehen.

Für die Größe der Stadt sind solche Musiktheater-Projekte ehrgeizig. Sie funktionieren, weil sie auf ein renommiertes Orchester bauen können, das von der nur einen Steinwurf entfernten Musikhochschule profitiert. Zwei Kooperationsprojekte für Sänger und Orchester versorgen das Theater mit frischem Nachwuchs.

Filmstoffe, Musiker-Biopics und Klassiker

So viel Furor drängt das Schauspiel etwas an den Rand, was es nicht verdient hat. Viele Inszenierungen sind zwar eher konventionell, das Bühnenbild ist oft sparsam, doch im Mittelpunkt steht die Leistung der Schauspieler, die sich besonders in den Musiker-Biopics von Schauspieldirektor Pit Holzwarth beweisen konnten. „Leonard Cohen“ ist seit mehreren Spielzeiten regelmäßig ausverkauft. In der neuen Spielzeit werden Filmstoffe wie „Berlin Alexanderplatz“ oder „Dogville“ neben Klassikern wie der Dreigroschenoper, den „Drei Schwestern“ (Tschechow) und „Caligula“ (Camus) inszeniert.

Wahrscheinlich ist es auch dem Schauspiel zu verdanken, dass das Theater ein im Vergleich zu anderen Häusern großes junges Publikum anzieht, wie Geschäftsführer Christian Schwandt immer wieder betont. Er ist stolz auf knapp 180.000 verkaufte Karten und vier Millionen Euro Eigeneinnahmen im letzten Jahr.

Trotzdem schreibt das Theater neuerdings rote Zahlen und hat die neuen Stücke von 21 in der Spielzeit 2016/17 auf nun 18 reduziert. Theater, besonders Musiktheater, ist ein Luxus der Gesellschaft: Jede verkaufte Karte wird mit einem Mehrfachen des Kartenpreises subventioniert. Deshalb ist Schwandt regelmäßiger Bittsteller im Kulturausschuss der Stadt. Im August beantragte er dort insgesamt 900.000 Euro an Hilfen: Im Arbeitsschutz müsse viel passieren und sowohl Tarif- als auch Mindestlöhne seien gestiegen. Schon jetzt bekämen viele Mitarbeiter, auch Künstler, weniger als zehn Euro Stundenlohn. Es kann also durchaus was dran sein, wenn gemunkelt wird, einige Theaterschauspieler seien regelmäßige Gäste der Tafel. Es ist ein unfreiwilliger Preis, den sie für die Lübecker Kultur zahlen.

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