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Von Beschwingtheit zu echter Beseeltheit

Die brillante Inszenierung von Giuseppe Lidartis spätbarockem Oratorium „Esther“ beim Festival Alter Musik in Bernau

Von Katharina Granzin

Bernau liegt schon in Brandenburg, ist aber nicht entfernt von Berlin. Die S-Bahn fährt hin; und der Regionalexpress braucht vom Bahnhof Lichtenberg aus 19 Minuten (Tarifzone C). Das nur vorab als Hinweis für künftige Gelegenheiten. Denn bei Erscheinen dieses Textes wird das feine kleine Festival Alter Musik, das die Bernauer sich jedes Jahr im prachtvollen gotischen Backsteinbau der St. Marienkirche leisten, für 2018 schon Geschichte sein. Es hat damit sein 25-jähriges Jubiläum gefeiert, und gleich die Produktion, mit der es am Freitagabend begann, riss das örtliche Publikum glatt aus dem Kirchengestühl.

Le Tendre Amour, „die zärtliche Liebe“, heißt das Ensemble, das man sich zum Jubiläumsauftakt aus Barcelona eingeladen hatte. Im Gepäck eine seltene Kostbarkeit: Das Oratorium „Esther“ des spätbarocken österreichisch-italienischen Komponisten Cristiano Giuseppe Lidarti aus dem Jahr 1774. Es hat eine besondere Bewandtnis mit diesem Werk, das heute anerkannt ist als das mit Abstand umfangreichste Stück jüdischer Kunstmusik des 17. und 18. Jahrhunderts. Lange Zeit kannte man nur das Libretto, verfasst von einem gewissen Jacob Raphael Saraval, seines Zeichens Rabbi von Mantua und Venedig. Der Text, auf Hebräisch mit lateinischen Buchstaben geschrieben, orientierte sich am englischsprachigen Libretto des Esther-Oratoriums (1732) von Georg Friedrich Händel.

Man wusste nur nie, wofür er gedacht war. Erst vor 20 Jahren entdeckte ein israelischer Musikwissenschaftler in der Universitätsbibliothek von Cambridge Giuseppe Lidartis Musik, die zu ebenjenem hebräischen Libretto komponiert worden war. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass das Esther-Oratorium anlässlich des Purimfests als Auftragswerk der Amsterdamer Jüdischen Gemeinde entstand, für die Lidarti – selbst kein Jude – regelmäßig tätig war.

Le Tendre Amour hat Lidartis „Esther“ nun für eigene Zwecke eingerichtet; denn es verfügt weder über ein Orchester noch über einen Chor. Mit nur sieben Personen stemmt die internationale Truppe die Produktion, davon fünf InstrumentalistInnen, eine Sängerin und ein Schauspieldirektor als Allzweckwaffe. Regisseur Adrián Schvarzstein, der auch sämtliche männlichen Rollen im Stück übernimmt, hat die dramatische Handlung in einen komödiantischen Rahmen gebettet. Er selbst tritt als clownesker Conférencier auf, erklärt dem Publikum mehrsprachig die Handlung, verteilt Ratschen zum Krachmachen (wenn im Stück der Name des Bösewichts genannt wird) und tätschelt hier und da schon mal einem braven Bürger die Glatze, während er durch die Reihen geht.

Das alles passt erstaunlich gut zur alttestamentarischen Geschichte von Esther, deren antiker Autor vermutlich fassungslos wäre, seinen ernsten Stoff in einem Commedia-dell’Arte-Verschnitt wiederzufinden: Die schöne Jüdin Esther, verheiratet mit dem Perserkönig Xerxes, kann ihr Volk durch Fürbitte bei ihrem Gemahl vor der Vernichtung durch den bösen Hofbeamten Haman und dessen Schergen retten. – Ebendiese Rettung ist es, die beim jüdischen Purimfest gefeiert wird, wobei traditionell das Buch Esther verlesen wird. Offenbar war man im Amsterdam des 18. Jahrhunderts schon so weit, die Tradition derart neu zu interpretieren, dass man stattdessen ein heiteres Operngewese aufs Programm hob.

Musikalische Perfektion ist beim kleinen EnsembleLe Tendre Amour kein Selbstzweck

Mit Rokoko-Gestus

Lidartis Oratorium mit seinem Rokoko-Gestus hat zwar seine dramatischen Momente, ist aber insgesamt von einer beschwingten Munterkeit durchzogen, der der Sieg über das Böse quasi von vornherein eingeschrieben ist. Andererseits geht ein großer Teil dieser Beschwingtheit, die an diesem Abend zu echter Beseeltheit aufläuft, natürlich auf das Konto der fantastischen MusikerInnen. Musikalische Perfektion ist hier hörbar kein Selbstzweck, sondern selbstverständliche Grundlage zur Darstellung einer Vielzahl von inneren Zuständen. Keinen Augenblick vermisst man ein größeres Orchester; denn was könnte großartiger sein als ein kleines Ensemble – Geige, Cello, Oboe, Flöte, Cembalo –, das wie ein einziger, atmender Klangkörper agiert.

Sopranistin Aurora Peña, als Esther quasi im Dauereinsatz, singt sich technisch brillant, mit kokettem Augenrollen und feiner Ironie scheinbar mühelos durch ihre vielen Arien. Adrián Schvarzstein klebt sich einen großen Schnauzbart an, fällt absichtlich von der Bühne auf den harten Steinfußboden und steht unverletzt wieder auf. Die Geigerin Farran James intoniert zur Pause in einem atemberaubenden, ergreifenden Solo (aber nicht von Lidarti, oder?) die große Not des zu vernichtenden jüdischen Volkes; und es ist in der Kirche so still, als hätte gerade jemand die Zeit angehalten. – Ach, Berliner und Berlinerinnen, ihr habt was verpasst!

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