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„Sonst bleibt man Opfer“

Mit Kunst sozialen Wandel erreichen, das ist der Antrieb der Künstlerin Adrian Piper. Ein Gespräch aus Anlass der Verleihung des Käthe-Kollwitz-Preises an sie

Interview Sabine Weier

taz am wochenende: Frau Piper, Sie sind Künstlerin und Philosophin, haben sich beiden Formen der Annäherung an die Wirklichkeit verschrieben. Warum ist beides wichtig für Sie?

Adrian Piper: Mit der Kunst pflege ich ein intuitives Verhältnis zur Wirklichkeit, mit der Philosophie ein intellektuelles. Indem ich beide Bereiche trenne, gewinne ich Klarheit. So verstecke ich meine visuellen Anschauungen nicht hinter intellektuellen Begriffen und verdunkle meinen Verstand nicht mit einer intuitiven Wahrnehmung.

Sie arbeiten künstlerisch seit den 1960er Jahren in unterschiedlichsten Formaten, dazu gehören Malerei, Performance oder Installation. Ist das Ästhetische politisch?

In sich ja, immer, weil man mit der Wahl des Mediums auch seine Haltung dem umgebenden politischen Kontext gegenüber ausdrückt: Was gibt mir überhaupt die Freiheit, Kunst zu machen? Woher bekomme ich die Ressourcen und die Ausbildung? Was kosten die Medien, die ich verwende? Woher bekomme ich dieses Geld? Woher nehme ich die Zeit, diese Medien künstlerisch zu nutzen? Wie werden diese Medien ansonsten genutzt? Aber das bedeutet natürlich nicht, dass sich jede Künstlerin und jeder Künstler mit politischen Themen beschäftigen sollte. Das wäre langweilig.

In Ihrem Werk sind die Themen Rassismus, Sexismus und Xenophobie schon immer zentral. In den USA, wo Sie herkommen, genauso wie in Europa, wo Sie seit 2005 leben, bekommen diese Phänomene neuen Aufwind. Aber auch Gegenbewegungen werden stärker und ihre Form verändert sich, Beispiele sind Kampagnen wie #MeToo oder #Black­LivesMatter. Wie schätzen Sie solche Formen von Aktivismus ein?

Diese Formen sind sehr wichtig, weil sie Erfahrungen öffentlich machen, die so viele Menschen zuvor im Verborgenen erlebten. Ohne diese öffentlichen Äußerungen – die gleichzeitig Warnungen an die TäterInnen sind – bleibt man Opfer. Man hilft den TäterInnen, weiter in aller Ruhe dieselben Verbrechen zu begehen. Erfahrungen öffentlich zu machen, sie zu vergleichen und die Ursachen dafür gemeinsam zu erklären, sind für uns alle notwendige Schritte in Richtung eines wirkungsvollen Handelns und damit hin zu einer besseren Gesellschaft.

Ihre Arbeiten sind oft partizipativ angelegt. In „Cornered“, einer Installation mit Video von 1988, konfrontieren Sie BetrachterInnen mit Ihrer afroamerikanischen Herkunft und deren Haltung dazu. Die von BetrachterInnen (und BürgerInnen) oft gezeigte Passivität ist zentral für Ihre Kritik an sozialen Realitäten. Kann Kunst Verhalten verändern?

Nicht allein und nicht schnell. Aber ein Kunstwerk zu erleben hat Auswirkungen. Es vermittelt die Möglichkeit, etwas verwirklichen zu können oder eine bestimmte Sicht auf die Welt anzunehmen. Die Frage ist nur, ob die BetrachterInnen diese Möglichkeiten innerlich unterdrücken oder sich doch davon inspirieren lassen.

An diesem Wochenende beginnt an der Berliner Akademie der Künste die Ausstellung anlässlich der Verleihung des Käthe-Kollwitz-Preises an Sie. Insbesondere in ­ihren Grafiken stellte Käthe Kollwitz soziale Missstände dar. Sehen Sie Parallelen zu Ihrem eigenen Werk?

Käthe Kollwitz war meine erste große Heldin in der Kunst. Ich war zutiefst beeindruckt, sowohl von ihrem Gefühl für soziale Gerechtigkeit als auch von ihrer technischen Begabung. Ich wollte genauso wie Käthe Kollwitz zeichnen können. Mein Selbstporträt aus dem Jahr 1966 im Katalog zur Ausstellung war ein Versuch, ihre Technik nachzuahmen. Genau wie sie halte ich eine grundlegende technische Ausbildung in den traditionellen Kunstformen für sehr wichtig.

Adrian Piper wurde 1948 in New York geboren. Die große Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste anlässlich der Verleihung des Käthe-Kollwitz-Preises 2018 an sie läuft bis zum 14. Oktober

2005 emigrierten Sie aus den USA und ließen sich in Berlin nieder. Sie gaben an, nicht mehr in die USA einreisen zu können, nannten die Gründe aber nicht, es folgten viele Spekulationen. Im Rahmen einer großen Retrospektive, die dieses Jahr im MoMA in New York zu sehen war und 2019 im Haus der Kunst in München gezeigt wird, ist jetzt Ihr Buch „Escape to Berlin“ erschienen.

Es ist eine Schilderung der Erlebnisse in den USA, die ich erst benennen konnte, nachdem ich entkommen war. Als ich noch in den Staaten lebte, konnte ich einfach nicht begreifen, was mir dort widerfuhr. Meine Kolleginnen an der Universität und die Verwaltung dort hielten mich für eine Lügnerin und Betrügerin, weil ich meine afrikanische Herkunft bejahte und mich als Afroamerikanerin identifizierte. Sie drangsalierten und bedrohten mich, schließlich vertrieben sie mich aus meiner Position und meinem Land. 2008 fing ich an, das Buch zu schreiben, als Therapie gegen eine posttraumatische Belastungsstörung. Erst nachdem es fertig war, fühlte ich mich befreit von der Angst und den Flashbacks. Die will ich nicht wieder hervorrufen, indem ich an den Tatort zurückkehre.

Was glauben Sie ist die größte Herausforderung für die Gesellschaft heute?

Im Berliner Bezirk Neukölln musste am ersten Tag des neuen Schuljahres eine Schule schließen, weil das Gebäude verschmutzt war. Seit ich hier lebe, habe ich immer wieder solche Phänomene miterlebt: marode Schul- und Universitätsgebäude, überfüllte Klassenzimmer, ausgebrannte und überlastete Lehrkräfte, die viel zu große Kurse unterrichten. In der Folge können sie nicht ausreichend viele Hausarbeiten betreuen und den Studierenden kaum persönlichen Kontakt bieten. Jeder weiß, dass DozentInnen in Kursen mit mehr als 15 Studierenden – unabhängig vom Fach oder Niveau – nicht mehr erfolgreich unterrichten können. Infolgedessen brechen zu viele ab, das Personal ist ausgebrannt, das Leistungsniveau mittelmäßig, und der allgemeine Fachkräftemangel ist so groß, dass er dem ganzen Land jetzt und auch in Zukunft noch schadet. Zuletzt hat Deutschland für Bildung und Forschung nur rund fünf Prozent seines Haushalts ausgegeben. Das sind die Konsequenzen. Diese verrückte Kaputtsparpolitik muss aufhören. Und zwar jetzt.

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