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Nichts bleibt, wie es ist

Mit der Riga-Biennale erfüllt sich eine reiche, junge Kunsthistorikerin einen Traum. Kuratorin Katerina Gregos hat der ersten Ausgabe einen überzeugenden Auftakt beschert

Den Fortschritt aufspießen: „Pinpointing Progress“ von Maarten Vanden Eyndes Foto: Andrejs Strokins

VonIngo Arend

Fast 680 Kilometer. Von Vilnius über Riga bis nach Tallinn reichte die Menschenkette, zu der sich am 23. August 1989 über eine Million Esten, Letten und Litauer aufreihten. 50 Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt, der 1939 die drei Länder an der Ostsee zur Sowjetunion schlug, demonstrierten ihre Einwohner ihren Drang nach Unabhängigkeit. Ein prophetisches Zeichen: Knapp zwei Jahre später löste der Wind des Wandels die UdSSR selbst auf.

„Change“ – der Begriff, den Kuratorin Katerina Gregos in den Mittelpunkt der 1. Riga-­Bien­nale stellt, die Anfang Juni in der lettischen Hauptstadt eröffnete, ist also gut gewählt. Das Baltikum ist zwar klein: Gerade mal 6 Millionen Menschen leben auf 175.000 Quadratkilometern in dem Dreiländereck an der Ostsee. Es hat aber seine Erfahrungen mit jähem Wandel.

Die reichen vom gewaltsamen Ausstieg aus der sozialistischen Zwangsgemeinschaft beim Blutsonntag von Vilnius 1991 bis zur internationalen Finanzkrise 2009. Mit kostenlosem Internet, Onlinebehörden und vir­tuel­ler Staatsbürgerschaft gilt das Baltikum heute als Europas Digitalisierungsstreber.

Demonstrativ platziert Gregos deshalb im Hof einer alten Süßigkeitenfabrik in Rigas Norden Erik Kessels’ Fotowand „Chain of Freedom“. Der niederländische Künstler sammelte so viele Fotos von der historischen Menschenkette von 1989, wie er nur fand. 30 Jahre nach dem historischen Ereignis erinnert in Riga seine meterlange Plakatwand an ein damals utopisches Zeichen.

Kessels’ Arbeit widerlegt am plakativsten das Misstrauen, das dem jüngsten Neuzugang im Kreis der internationalen Biennalen entgegengeschlagen war: raffiniertes Instrument der kulturellen Hegemonie eines übermächtigen Nachbarn zu sein. Finanziert hat die kostspielige Initiative der 32 Jahre jungen Kunsthistorikerin Agnija Mirgorodskaja nämlich deren millionenschwerer Vater, ein Fischwarenunternehmer aus St. Petersburg.

Gegen die These von der mit „russischem Geld“ gesponserten soft power spricht auch die Tatsache, dass die Biennale im Jahr des 100. Geburtstags der ersten Unabhängigkeit der baltischen Staaten 1918 stattfindet. Und Katerina Gregos, die Frau, die Biennale-Gründerin Mirgorodskaja als erste Kuratorin auswählte, ist keine, die man „kaufen“ kann.

In den letzten 15 Jahren ist die progressive, griechischstämmige Kuratorin aus Brüssel, Jahrgang 1967, mit eminent politischen Schauen aufgefallen: 2014 in Brüssel über die Auswirkungen der Finanzkrise in Griechenland (taz vom 24. 7. 2014), ein Jahr später über die Krise Europas in Thessaloniki (taz vom 1. 7. 2015).

Nicht zufällig hat Gregos auch den Titel eines berühmten Buchs zum offiziellen Motto der Biennale erwählt. In seinem 2006 erschienenen Werk „Everything Was Forever, Until It Was No More“ analysierte der russische Wissenschaftler Alexei Yurchak den Untergang der Sowjetunion.

Als „Hypernormalisation“ bezeichnet der in Leningrad geborene Transformationsforscher, der später im kalifornischen Berkeley Anthropologie lehrte, darin das Paradox, dass jeder in der Sowjetunion gewusst habe, dass das System scheitere. Weil eine Alternative fehlte, taten aber alle so, als ob es funktioniere. Mit irgendeinem „Change“ habe deswegen niemand gerechnet.

An diesen überraschenden Wandel erinnert Gregos in einer prachtvollen Großbürgeretage mit Blick auf Rigas Freiheitsplatz. Zu sehen ist dort „Litauen und der Kollaps der UdSSR“, die fünfstündige Videoinstallation des litauischen Avantgardefilmers Jonas Mekas. Im Spiegel von US-Nachrichtensendungen kann man noch einmal miterleben, wie die Unabhängigkeitserklärung Litauens 1991 zur Auflösung der UdSSR führte.

So bedient die Biennale ihren regionalen Fokus und reflektiert ihren historischen Kontext. Doch Gregos wäre nicht Gregos, wenn sie diesen Fokus nicht weiten würde. Letztlich geht es ihr um Transformationserfahrungen generell: „Um systemische Schocks ebenso wie um den rapiden, zunächst oft kaum merklichen Wandel, in der Natur, der Technologie, der Politik“, erklärt sie ihren Ansatz.

Deswegen steht im alten Industriehafen Rigas Maarten Vanden Eyndes Skulptur „Pinpointing Progress“. Der niederländische Künstler hat einen Bus, ein Auto, ein Moped, ein Fahrrad, einen Computer, ein Radio, ein Telefon, eine Kamera und einen Transistor auf einer überdimensionalen Nadel so aufgespießt, dass sie aussehen wie die Stadtmusikanten aus Rigas Partnerstadt Bremen. Eine Stufenleiter der technologischen Evolution, bei der alles immer kleiner wird.

Und James Becketts Skulptur „Palace Ruin“ im Park neben der alten Biologischen Fakultät, eine Nachbildung der schwarzen, rauchenden Ruine des 1929 in Flammen aufgegangenen Amsterdamer Glaspalasts, wirkt wie ein Memorial der plötzlichen, unerwarteten Existenzvernichtung.

Die Ausstellung

„Everything Was Forever, Until It Was No More“. 1. Riga International Biennial of Contemporary Art (Riboca). Riga, Lettland. Noch bis zum 28. Oktober 2018. Handbuch, 15 Euro.

Die Biennale mit allen Künstlern, Werken und Orten lässt sich auf der Website https://digital.rigabiennial.com/ nachvollziehen.

Natürlich wirft jede neue Bien­nale die Frage auf, ob sie, angesichts von fast 200 weltweit, überhaupt notwendig ist. Im Fall von Riga kommt hinzu, dass die junge kritische Kunstszene der Region schon 1979, noch in der sowjetischen Zeit, die Baltic-Triennale gründete. Mit ihrer übernationalen Ausrichtung verfolgt sie womöglich sogar das sinnvollere Konzept. In diesem Jahr lanciert sie von Mai bis November unter dem Motto „Give Up the Ghost“ drei Schauen in Tallinn, Riga und Vilnius.

Die Riga-Biennale erwuchs zwar auch aus der Zivilgesellschaft. Aber hier haben sich nicht politästhetische Basis­ini­tia­tiven eine autonome Plattform geschaffen, sondern eine reiche Kunstliebhaberin hat sich einen Privattraum erfüllt.

In Zukunft sollte die Biennale-Stiftung, die schon die zweite Ausgabe 2020 plant, ihre Basis verbreitern, wenn sie nicht nur die „Annahmen und Meinungen von Menschen über zeitgenössische Kunst ändern“ will, wie es Gründerin Mirgorodskaja vorschwebt, sondern auch die kritische Szene „empowern“ will.

Bei der ersten Ausgabe konnte Gregos dank des reichen Sponsors jedenfalls aus dem Vollen schöpfen. In dem mit 145 Arbeiten von 104 Künstler*innen (ein Drittel davon eigens für die Bien­nale produziert) überreichlich bestückten Parcours von Documenta-Ausmaßen sieht man mitunter den Wald des „Change“, auf den sie hinauswill, vor lauter Bäumen nicht mehr.

Dennoch bietet der Besuch eine Erfahrung wie kürzlich bei der Manifesta in Palermo. Auch in Riga gehen die Kunst und eine Stadt, der man ihre Transformationserfahrung auf Schritt und Tritt ansieht, eine faszinierende Kombination ein.

Erholen von den ästhetischen Befragungen des beschleunigten Wandels lässt es sich am Ende des Rundgangs im Art Space Dubulti, Europas einziger Kunststation in einem öffentlichen Bahnhof im berühmten Seebad Jurmala, 40 Kilometer westlich von Riga. Dort hat der Berliner Künstler Viron Erol Vert sein „Ambereum“ eingerichtet – eine dem legendären Bernsteinzimmer nachempfundene Lounge in verspiegeltem Orange­ocker. Vielleicht gelingt es ja der bunten Menschenkette, die sich dort zu Talks und Soundtravels versammelt, die mentalen Grenzen zu überwinden, die Europa heute wieder trennen.

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