: „Der Übergang zum Ein-Mann-Regime ist vollzogen“
Parlament und Bevölkerung haben in den letzten zehn Jahren alle demokratischen Errungenschaften der Türkei aufgegeben, sagt der Verfassungsrechtler Murat Sevinç
Interview Tunca Öğreten
taz: Herr Sevinç, sind in der Türkei die demokratischen Errungenschaften von 95 Jahren Republik über Nacht verloren gegangen?
Murat Sevinç: Ja und nein. Es stimmt, dass wir vieles selbst aufgegeben haben. Manche Errungenschaften gingen in den letzten zehn Jahren schleichend verloren, andere plötzlich.
Was meinen Sie mit „selbst aufgegeben“?
Alles, was die Regierung an der Verfassung ändern wollte, hat sie der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt: Zuerst im Referendum 2007, dann bei den Volksentscheiden 2010 und 2017. Die Wähler stimmten den Änderungen mehrheitlich zu. Das Regime in der Türkei wurde also per Mehrheitsvotum geändert. Im Grunde bekommt Erdoğan durch die neuen Dekrete gar nicht mehr Befugnisse. Sie machen nur sichtbar, was er bereits vorher durfte.
Neben der Bevölkerung stimmte auch das Parlament eifrig den Änderungen zu, die seine eigene Macht beschneiden. Premierminister Binali Yıldırım unterstützte die Verfassungsänderungen geradezu euphorisch, auch die, mit der sein eigenes Amt abgeschafft wurde. Das geschah nicht über Nacht, es ist ein Prozess, der im Laufe von gut zehn Jahren offen vor unseren Augen vorangetrieben wurde.
Wie würden Sie das neue System in der Türkei beschreiben?
Da gibt es nicht viel zu diskutieren. Der Übergang zum Ein-Mann-Regime ist vollzogen. Und dabei ist es egal, wer Präsident ist. Die im letzten Referendum bestätigte Verfassungsänderung wurde nicht eingeführt, um systemimmanente Probleme zu lösen, sondern um die Wünsche einer einzigen Person umzusetzen. Vorausgesetzt, der Präsident und die Mehrheit im Parlament sind sich in der politischen Richtung einig, gibt es in der neu geschaffenen Struktur nichts mehr, was der Präsident nicht machen könnte.
Und wenn sie sich nicht einig sind?
Murat Sevinç Jahrgang 1970, ist Verfassungsrechtler. Er lehrte an der Universität Ankara, bis er 2017 per Dekret suspendiert wurde.
Dann dürfte das System schnell in einer Sackgasse stecken. Erdoğan hat nicht damit gerechnet, dass er die Mehrheit im Parlament verlieren und somit gezwungen sein würde, Allianzen zu bilden. Das System, das uns jetzt erwartet, heißt „Unregierbarkeit“.
Was bedeutet das konkret?
Die Regierung hat nicht das Ziel, Kompromisse mit der Opposition zu finden. Das bedeutet eine andauernde Spannung und Instabilität. In der aktuellen Verfassung gibt es keine Checks und Balances wie etwa im Präsidialsystem der USA. Zwar kann das Verfassungsgericht die Dekrete des Staatspräsidenten einer Untersuchung unterziehen. Doch wir sprechen von einem Gericht, dessen Richter praktisch vollständig vom Präsidenten bestimmt werden. Deshalb wird dieses System entweder zur „Ein-Mann-Herrschaft“ oder in die Sackgasse führen.
Aus dem Türkischen: Sabine Adatepe
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